Das Flüchtlingslager Kehrhau
Autor: Dr. Hertha Schwarz
In einem nahe der damals noch selbständigen Gemeinde Unterjettingen gelegenen Waldstück wurden um die Jahreswende von 1945 auf 1946 ehemalige Munitionsbaracken der Wehrmacht zu einem Durchgangslager für deutsche Vertriebene und Flüchtlinge hergerichtet. Die ersten Vertriebenen aus dem Sudetenland trafen im März 1946 ein. Nach Erledigung der Formalitäten wurden die Menschen auf die umliegenden Gemeinden verteilt und in Wohnungen eingewiesen. Bis zum Sommer 1947 passierten dieses Durchgangslager mehr als 20.000 Personen, die im Landkreis Böblingen eine neue Heimat fanden. Die Erinnerung an die Existenz des Lagers in Unterjettingen ist daher noch fest in der kollektiven Erinnerung verankert.
Mit der Zielvorgabe, die Geschichte des Lagers in ihrem historischen Kontext zu untersuchen, hat der Landkreis Böblingen die wissenschaftliche Erforschung des Lagers beauftragt. Es hat sich gezeigt, dass in Unterjettingen die deutsche Flüchtlings- und Lagerproblematik wie unter einem Brennglas studiert werden kann: Das zusammengebrochene Land stand nicht nur vor der großen Herausforderung, wieder eine funktionierende Ordnung zu etablieren, sondern auch noch Millionen entwurzelter Menschen, deren Schicksale und damit Interessen nicht unterschiedlicher sein konnten, in diese neue Ordnung zu integrieren. Politische wie administrative Maßnahmen und Sprachgebrauch der Zeit legen dar, wie diese gewaltigen Verwerfungen aufgefasst und verinnerlicht wurden, was wiederum Auswirkungen auf den Umgang mit den betroffenen Menschen hatte. Die in Deutschland ‚gestrandeten‘ Menschen wurden grob in zwei Gruppen eingeteilt, die eigenen deutschen Angehörigen und die ‚anderen‘, nicht-deutschen Fremden. Während für die eigenen Vertriebenen von Anfang an staatliche Unterstützungsmaßnahmen und -programme zur Integration aufgelegt wurden, sollten alle Fremden möglichst schnell zurück in ihre Heimat oder zur Auswanderung gebracht werden. Für sie war lediglich der Aufenthalt in einem Lager und eine Minimalversorgung vorgesehen. Ein Bewusstsein, dass eigenes Handeln für die aktuellen Probleme ursächlich war, ist bei der deutschen Bevölkerung damals insgesamt kaum vorhanden gewesen. Entsprechend dürftig war die Empathie für die Betroffen, und offene Ablehnung selbst der eigenen Vertriebenen war keine Ausnahme. Doch noch bevor die Folgen des Krieges ‚bereinigt‘ waren, verliehen die Zeitläufte dem Lager Unterjettingen eine eigene Dynamik. Die Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs auf Osteuropa hatte zur Folge, dass aus diesen Gebieten bald nach 1945 eine Fluchtbewegung nach Deutschland einsetzte. Nachdem die Aufnahme der deutschen Vertriebenen im Sommer 1947 weitgehend abgeschlossen war, diente das Lager in Unterjettingen zunächst als Auffanglager für illegale Grenzgänger. Im April 1948 wurde das bislang in deutscher Regie betriebene Lager in ein Camp für Displaced Persons umgewandelt und der IRO (International Refugee Organization) unterstellt. Bezogen wurden die Baracken im Unterjettinger Wald nun von Tschechen und Slowaken, die nach der kommunistischen Machtergreifung im Februar 1948 in großer Zahl das Land verließen. Sie bildeten das sog. Czechoslovak Democratic Camp und entfalteten im Unterjettinger Lager rege kulturelle Tätigkeiten.
Im August 1948 wurde das DP-Lager der Tschechoslowaken aufgelöst und seine Bewohner in ein Lager nach Ludwigsburg transferiert. In das Unterjettinger Lager, das nun wieder unter deutsche Verwaltung kam, zogen ab August 1948 Displaced Persons aus italienischen Auffanglagern ein, die aus der Betreuung der IRO ausgeschieden waren, weil sie entweder keinen Schutzstatus beanspruchen konnten oder für eine Auswanderung als nicht geeignet betrachten wurden. Im Verlauf der nächsten Jahre lebten auf der Waldparzelle bei Unterjettingen und in direkter deutscher Nachbarschaft Menschen aus mehr als 40 Nationalitäten in sehr großer Zahl zusammen; phasenweise war das Lager mit mehr als 700 Personen belegt, darunter viele Alte, Frauen und Kinder. Das Leben im Lager, dessen Infrastruktur und die Schicksale seiner Bewohner sind in den erhalten Akten so gut dokumentiert, dass dieser ganz eigene Kosmos weitestgehend rekonstruiert werden konnte.
1951, bei der Aufhebung aller Ausländerlager auf dem Gebiet der Bundesrepublik, wurde auch das Lager Unterjettingen zum 31.12.1951 geschlossen und unmittelbar vom 1.1.1952 an als Wohnheim für heimatlose Ausländer weitergeführt. In dieser Funktion existierte das ehemalige Lager bis in das Jahr 1962.
Dr. Hertha Schwarz, Kurzbeschreibung Buchprojekt Kehrhau Unterjettingen