Am 19. Dezember 1943 klopften Max und Karoline Krakauer, alias „Ackermann“, das erste Mal im Hause Mörike an. Ende Januar 1943 hatte ihre abenteuerliche Flucht durch Deutschland begonnen, die über 800 bange Tage währte und die beiden durch 66 Häuser von Berlin über Pommern nach Württemberg führte. Fast alle ihre Angehörigen und Freunde wurden ermordet, sie selbst schließlich durch den Einmarsch der Amerikaner erlöst. Beim Pfarrpaar Mörike wohnten die Krakauers vom 19. Dezember 1943 bis zum 17. Januar 1944 und vom 6. bis zum 15. Juni 1944. Über die Identifikation mit dem Schicksal der Krakauers wurde Otto Mörike zu einem der Hauptverantwortlichen des Bruderrings. Bislang lassen sich 13 Menschen nachweisen, die durch diese Organisation zur Rettung untergetauchter Juden unter der Beteiligung der Mörikes versteckt wurden. Schwer zu beschreiben sind Gertruds Ängste, wenn wieder einmal ein Gestapo-Wagen vorfuhr und Otto unterwegs war:
„Da musste man zur eigenen Angst, die man freilich auch bekam, dann immer noch sie (die Kinder) beruhigen und aufbauen. Die Männer waren da ja meist weg, so dass das häufig Frauensache war.“ Gertrud schrieb an ihre Tochter: „Immer mehr wird die Welt das Licht und die Wärme von Christus her brauchen, und wir wollen bereit sein, diese Lichtträger zu sein. … Wenn draußen im Felde die Männer haufenweise zugrunde gehn für etwas so Schreckliches wie das Dritte Reich, dann ist es das Gegebene, dass auch wir unser Leben einsetzen für etwas Richtiges, Gutes.“ … Für Gertrud und Otto Mörike war der 20. April 1945 „der Tag der Besetzung unserer Gegend durch den Feind und zugleich der Tag der Befreiung vom Tyrannen“. Auf die erste Freude folgte die Angst vor Vergewaltigung. In der Nacht zum 21. April versammelten sich 120 und in der folgenden 180 Mädchen und Frauen im Pfarrhaus. Das beherzte Einschreiten Mörikes und gemeinsames lautes Singen verhinderten das Schlimmste. Weg fielen in den folgenden Wochen der ewige Druck, die Beobachtung der Gestapo, die dauernde Angst, abgeholt zu werden. Die versteckten Juden konnten auftauchen, die in den Konzentrationslagern gefangen gehaltenen Freunde kamen frei.
Streitbarer Pfarrer nach 1945
Von 1947 bis 1953 wirkten die Mörikes in Weilimdorf, danach war Otto Mörike bis zu seinem Ruhestand 1957 Dekan in Weinsberg. Er engagierte sich bis ins Alter mit großem Einsatz für seine Projekte, als Leiter der kirchlichen Bruderschaft in Württemberg, als Initiator eines Bruderschaftskreises in Freudenstadt oder als Wanderprediger bei Bibelwochen in Württemberg. Er wurde zum Beauftragten der Aktion Sühnezeichen in Baden-Württemberg, initiierte den Bau eines jüdischen Altenheimes, brachte als streitbarer Beistand alle „seine“ Kriegsdienstverweigerer durch das Anerkennungsverfahren und demonstrierte gegen die Atombewaffnung. Ein 70-Jähriger mit weißem Bürstenhaar, aufrecht, den Sportsack geschultert, mit dem Organ des Kanzellöwens in Stuttgarts Straßen rufend: „Die Bombe muss weg!“ Sein persönlicher Einsatz kostete Otto seelische Kraft. Er litt unter Depressionen, die ihm jeden Mut nahmen. Doch seine größte Sorge bis zu seinem Tode war, dass die Behandlung und Verfolgung der Juden nach dem Krieg nicht gebührend aufgearbeitet wurden.
Gertrud blieb äußerlich im Hintergrund, teilte jedoch seine theologischen und politischen Ansichten und gab ihm Halt, pflegte und tröstete ihn. Im Ruhestand verstärkte sich die seelische Krankheit ihres Mannes. Als Otto im Juni 1978 in einen unruhigen Todeskampf fiel, sang Gertrud ihm Liederverse, die sie früher gemeinsam gestärkt hatten. Mit ihrem Singen kam Otto zur Ruhe und entschlief. …
Am 24. Dezember 1982 starb Gertrud Mörike nach kurzer Krankheit.
Gertrud Mörike – Selbstverständnis einer Pfarrfrau
Das für viele heute antiquiert wirkende Selbstverständnis Gertrud Mörikes als Frau und „treue Dienerin“ ihres Gatten entsprang den württembergisch-evangelischen Vorstellungen einer Pfarrfrau. Gertrud führte das Pfarrhaus und „ihren“ Garten, war Mutter von sechs eigenen und einem Pflegekind und engagierte sich in der Gemeindearbeit. Sie führte regelmäßige Singfreizeiten durch, versah den Orgeldienst und unterrichtete Bauernmädchen darin, leitete Frauenkreise und verantwortete und gestaltete den Kinderkirch- und Religionsunterricht. Im Wissen um die Gefahren für sich und ihre Liebsten äußerte und lebte sie ihre Ideale in ihren Briefen, in ihrer Wahlerklärung und in ihrem Handeln. Die Alltagslasten der Hilfeleistung für untergetauchte Juden und für im KZ Gefangene wurden zuvorderst durch sie getragen. Dies tat sie – wie am Beispiel ihrer insgesamt zwanzig Schwangerschaften deutlich wird – mit teilweise seltsam anmutender Selbstlosigkeit, die an Selbstzerstörung grenzte. Ihr Einsatz und ihre Kraft entsprangen dem Glauben an ihren Gott sowie der Liebe zu ihrem Otto.
Otto Mörike – Frömmigkeit und politisches Engagement
Dieser war durchaus autoritär, mitreißend in seiner Art, theologisch wie politisch „ein Stachel im Gewissen der Menschen“, der pieksen konnte, der sich leidenschaftlich einmischte, wenn seiner Meinung nach Ungerechtigkeiten verübt wurden. Otto liebte Gertrud, seine Frau, und seine Kinder. Er liebte seinen Gott und er liebte das Leben, das ist aus seinem Engagement, aus seinen Predigten wie aus allem, was er tat, herauszulesen. Die Frömmigkeit Ottos drückte sich in politischem Handeln wie dem bedingungslosen Einstehen für seinen Glauben gegen die Nationalsozialisten oder der Beteiligung am Bruderring sowie in mehrfachen Andachten täglich aus. Otto Mörike hatte viele Ecken und Kanten, konnte kauzig sein und depressiv, aber sein Elan und seine Kraft wie auch sein Leiden und seine Trauer galten dem Einsatz für Gerechtigkeit.
Gertrud und Otto liebten und achteten einander, und beide schafften es, sich diese Liebe über alle Anfeindungen von außen hinweg bis ins hohe Alter lebendig zu erhalten. Sie teilten die Arbeit im Pfarrhaus und in der Familie und hatten ähnliche Vorstellungen von Leben, Erziehung, Glaube und Politik. Dabei agierte Otto mehr nach außen, leidenschaftlich und unbeirrt, und Gertrud wirkte eher im Hintergrund, klug, besonnen und kraftvoll. Gertrud und Otto waren in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnliches Paar. …
Der Staat Israel hat Gertrud und Otto Mörike seine höchste zu vergebende Auszeichnung, die Yad Vashem-Medaille, verliehen. Ihnen beiden wurde in der „Allee der Gerechten“ in Jerusalem ein Baum gepflanzt.