Sie waren Luther voraus
Die Brüder vom Gemeinsamen Leben in Herrenberg
Autor: Hans-Diether Frauer
2017 wurde im Bereich der württembergischen Landeskirche viel an Martin Luther erinnert, der 1517 mit seinem Thesenanschlag den Gang der Geschichte verändert hat. Über seinem Bemühen, die damals desolate Amtskirche zu reformieren hat er – ungewollt – eine neue Kirche begründet. Luther war nicht der erste, der eine Kirchenreform wollte, vor ihm gab es bereits Bewegungen wie etwa die Waldenser oder Vorreformatoren wie den 1415 in Konstanz verbrannten Jan Hus. Zu den vorreformatorischen Bewegungen werden auch die „Brüder vom Gemeinsamen Leben“ gerechnet, die in Herrenberg ihre Spuren hinterlassen haben.
Die „Brüder vom Gemeinsamen Leben“ waren nur von 1481 bis 1517 – also in den Jahren unmittelbar vor dem Thesenanschlag – in Herrenberg. Sie haben aber in dieser kurzen Zeit die Stadt nachhaltig geprägt. So haben sie die damals unvollendete Stiftskirche fertig gebaut, ihnen sind das Chorgestühl und die Kanzel dort zu danken, ebenso wie der – im 19. Jahrhundert nach Stuttgart verkaufte – Rathgeb-Altar. Die für sie 1481 umgebaute Propstei – das heutige Dekanat – gehört unverwechselbar zum Herrenberger Stadtbild.
Die „Brüder vom Gemeinsamen Leben“ entstanden gegen Ende des 14. Jahrhunderts in den heutigen Niederlanden. Sie wollten wie Christus und seine Apostel ein vom Glauben geprägtes Leben führen und so beispielgebend in ihre Umgebung hinein wirken. Dabei verstanden sie sich als Alternative zum Mönchstum, das zwischenzeitlich doch sehr verweltlicht war. So legten sie kein Gelübde ab und lebten ganz bewusst außerhalb der Klostermauern, sie verzichteten auf Privatbesitz, lebten ehelos und in Gütergemeinschaft und erwirtschafteten ihren Lebensunterhalt selbst. Sie lebten von ihrer Hände Arbeit, daher fanden sie rasch viele Anhänger, auch, weil eben dies vorteilhaft vom oft unwürdigen Leben der damaligen Geistlichkeit abstach.
Der bedeutende Bruder Georgius Macropedius in der Tracht der Brüder vom gemeinsamen Leben (1572). (Bild: Wikimedia Commons)
Der württembergische Graf und spätere Herzog Eberhard im Bart holte sie nach Württemberg, um den Zustand der Kirche zu verbessern. Der bedeutende Landesfürst hatte 1482 damals getrennte Landesteile Württembergs wieder zusammen geführt und 1477 die Universität Tübingen gegründet. Nun lag ihm – wegen der immer deutlicher zutage tretenden Missstände – die Erneuerung der Kirche am Herzen: er erwirkte vom Papst die Genehmigung, die innerhalb seines Landes gelegenen Klöster zu reformieren und rief dazu die Brüder vom Gemeinsamen Leben ins Land. Ihre Bruderhäuser befanden sich in der damaligen Residenzstadt Urach, in Dettingen/Erms, Einsiedel/Schönbuch, Herrenberg, Sindelfingen, Tachenhausen (einem später abgegangenen Ort bei Nürtingen) und in Tübingen. Nach Urach war Herrenberg ihr mit bis zu 16 Brüdern größter und wichtigster Wirkungsort.
Die Brüder – wegen auffälliger grauschwarzer Kapuzenmäntel im Volk die „Kappenbrüder“ oder „Kappenherren“ genannt – führten ein streng geregeltes Leben. Jeder Tag begann um 3 Uhr früh mit einem halbstündigen Morgengebet, drei Mal jeden Tag waren Bibelstudium und -betrachtung in den Zellen auf dem Programm, dazwischen wurde gearbeitet. Einmal im Monat durfte gebadet werden, vier Mal jährlich kam es zum Aderlass, der als gesundheitsfördernd galt. Für Verstöße gab es ein ausgeklügeltes Buß- und Strafsystem. Wer zu spät zum Gottesdienst kam, hatte Bußübungen zu absolvieren, wer das Fasten nicht einhielt, wurde bei Wasser und Brot eingesperrt, wer Privateigentum besaß, musste den andern Brüdern die Füße küssen und wer „der Sünde der Wollust“ gefrönt hatte, auf den wartete schwere Kerkerhaft.
Stiftskirche Herrenberg und Dekanatsgebäude. Beide Gebäude sind historisch eng mit den Brüdern vom Gemeinsamen Leben verbunden. (Bild: Wikimedia Commons / Urheber: qwesy qwesy / Lizenz: CC BY 3.0 )
Insgesamt haben die Brüder aber in einer Zeit der allgemeinen Verwirrung und Orientierungslosigkeit und vor dem Hintergrund einer unwürdigen Kirche durch ihr vom Glauben geprägtes Leben beispielgebend gewirkt. In Herrenberg gestalteten sie das sehr verweltlichte Chorherrenstift, das Reformbeziehungen lange getrotzt hatte, in ihrem Sinne um. Sie haben durch ihr überzeugendes und – im Wortsinne – glaub-würdiges Leben beeindruckt und gewirkt und der Stiftskirche ihr Zeugnis aufgedrückt. Ab 1487 wurde die damalige Bauruine spätgotisch eingewölbt und das Kirchendach fertig gestellt, bis 1502 erfolgte der Anbau des „Wortzeichens“, 1483 kam eine weitere Glocke auf den Turm, die Kanzel (1503) in der Stiftskirche ist ebenso den Brüdern zu danken wie das Chorgestühl (1517) und der Rathgeb-Hochaltar (ab 1519) ist von ihnen in Auftrag gegeben worden. Mit Recht werden sie zu den vorreformatorischen Bewegungen gerechnet. Martin Luther war stark von ihnen beeinflusst und er hat sie nach eigenem Zeugnis hoch geschätzt.
Für all ihre Arbeit ernteten die Brüder vom Gemeinsamen Leben – auch in Herrenberg – schnöden Undank. Ihr Förderer war der zum Herzog erhobene vormalige Graf Eberhard. Er war so positiv von ihnen beeindruckt, dass er sich in der blauen Kutte der Brüder in deren Stift Einsiedel im Schönbuch bestatten ließ. Als er aber gestorben war, hatten die Brüder keinen Rückhalt mehr im Lande. Geistlichkeit und Klöster blickten scheel auf die Musterchristen, die so ganz anders lebten als sie selbst. Der neue Herzog Ulrich ließ sich von missgünstigen Landständen und Klöstern gegen sie aufwiegeln und das von den Brüdern angesammelte Vermögen konnte er gut zur Finanzierung seiner aufwendigen Hofhaltung verwenden. Im Jahre 1516 erwirkte er beim Papst die Genehmigung, die Bruderschaft „abzuschaffen“: er behauptete, deren neue, fremde und ungewohnte Lebensweise hätten in Württemberg „gewaltigen Schaden“ verursacht. Kein Wort davon war wahr, aber die Brüder mussten gehen oder sich in das wieder neu entstehende Chorherrenstift einfügen. Nicht jeder von ihnen hat das verkraftet: Johannes Rebmann, der Leiter der Herrenberger Brüder, starb bereits 1517, man vermutet, „an gebrochenem Herzen“.
Auch den berühmten Herrenberger Altar von Jörg Ratgeb gaben die Brüder vom Gemeinsamen Leben in Auftrag. Rechter Außenflügel, Szene innen mit der Auferstehung Christi. (Foto: Wikimedia Commons)
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Der Autor, Hans-Diether Frauer, ist Historiker und Publizist. Er lebt in Herrenberg und ist ein ausgewiesener Kenner der württembergischen Geschichte und Kirchengeschichte. Er hat mehrere Bücher verfasst und ist ein gefragter Vortragsredner.