Grenzsteine erzählen Geschichte(n)
Ehningen und seine „Ketterlenshalde“
Autor: Klaus Philippscheck
Bei der Grenzsteinsuche und dem Erforschen der Aufgaben, die solche Steine hatten, fällt immer wieder auf, wie außerordentlich wichtig man früher gerade im Wald die Grenzen genommen hat. Für Grenzforscher sind solche Orte besonders interessant, weil hier die Wahrscheinlichkeit am größten ist, noch historische Steine zu finden – allerdings ist dies oft mit besonderen Mühen und zerkratzter Haut verbunden.
Selbst in die tiefsten, abgelegensten Winkel der großen Wälder wurden früher schwere Grenzsteine transportiert – eine anstrengende und gefährliche Arbeit. Aber man wollte auch an solchen Stellen die Markungsgrenzen präzise dokumentiert haben, denn auf kein noch so kleines Waldstück konnte verzichtet werden; und kein Stück Wald sollte durch Fremde genutzt werden können. Dazu war das Holz als Rohstoff zu wichtig. Denn das Holz ist in seiner damals geradezu existenziellen Bedeutung nur mit dem heutigen Erdöl zu vergleichen.
Holzrechte sind deshalb früher derart wichtig gewesen, dass man sie äußerst genau und differenziert geregelt hat. Das waren oft seitenlange Verträge: Vom Stammholz als Bauholz, über Brennholz, über große und kleine Äste und biegsame Weidenruten bis zum trockenen Reisig, auch zum Laubstreu und zu den Eicheln und den Bucheckern für die Schweinemast – alles ist in seiner Nutzung geregelt gewesen. Rechte an der Nutzung des Waldes wie etwa die uralten „Schönbuchgerechtigkeiten“ haben die Gemeinden besessen; manchmal auch direkt die Bürgerschaft (wie etwa beim Laubach-Wald, dem sogenannten „Weiberwald“ in Schönaich); dann aber auch einzelne Institutionen wie Meierhöfe oder Mühlen.
Stein an der Maurener Allee, der die Grenze zum Privatwald der Familie von La Chevallerie kennzeichnet. (Foto: Klaus Philippcheck)
Auf dem Weg entlang der Markungsgrenze zwischen Ehningen und Rohrau finden sich an der Forststraße mitten im Wald nur noch wenige Steine. Dass man sich hier im Staatswald befindet, ist sofort zu erkennen, denn auf beiden Seiten dieser Steine ist das „herrschaftliche“ Zeichen, die Hirschstange Württembergs, eingemeißelt. Und die historischen Dimensionen sind beeindruckend: Die Staatswälder verweisen als „Herrschaftswälder“ über ein Jahrtausend weit in das frühe Mittelalter zurück, als alle Wälder den fränkischen Königen gehört haben. Über die Grafen von Calw und die Tübinger Pfalzgrafen kamen solche Wälder wie die Ehninger Ketterlenshalde dann vor über 650 Jahren an die württembergischen Herrscher – und zwar in ihren direkten, privaten Besitz. Deshalb wird dieser Wald auch bei der Landesvermessung 1830 als „Kammerforst“ bezeichnet. Schon im Mittelalter sind aber viele Wälder von den Herrschern verkauft, verschenkt oder auch übergeben worden: Jede neu gegründete Stadt musste z.B. mit eigenen Waldgebieten ausgestattet werden, um existieren zu können. Aber immerhin sind im Kreis Böblingen noch heute über 20% des Waldes in Staatsbesitz.
Die erst einmal schwierig zu deutenden zusätzlichen Buchstaben auf den Steinen berichten dem Spezialisten nun davon, dass das Herzogtum Württemberg schon ab dem frühen 16. Jahrhundert den Versuch gemacht hat, eine effiziente Forstverwaltung aufzubauen. Damit sollte versucht werden, ein Oberaufsichtsrecht über sämtliche Waldungen des württembergischen Territoriums durchzusetzen. Wald- und Holzordnungen für jeglichen Wald waren ein Mittel dazu.
So wurden Schritt um Schritt 15 Forstämter geschaffen, wodurch dann das ganze Herzogtum in Forsten aufgeteilt war. Diese Ämter waren der herzoglichen Rentkammer untergeordnet. Zu diesen Ämtern gehörten der „Böblinger Forst“ und der „Tübinger Forst“. Und diese beiden treffen sich nun genau an der Ehninger/Rohrauer Markungsgrenze. Typischerweise geben uns die Steine keine Hinweise auf die beiden Gemeinden. Denn der Besitzer dieses Waldes mit seiner herrschaftlichen Hirschstange verdrängt die Fleckenzeichen Ehningens und Rohraus. So erkennt der Grenzsteinsucher bei dem Stein, der wenige Schritte östlich von der kleinen Forsthütte steht, auf der Ehninger Nordseite die Buchstaben B und F für „Böblinger Forst“ und auf der Südseite T und F für den historischen „Tübinger Forst“.
Dass der südliche Teil des Staatswaldes Ketterlenshalde zu einem anderen Forstamt gehörte als der nördliche, scheint im ersten Augenblick unsinnig zu sein. Das hat aber damit zu tun, dass dieser Waldteil einen langen schmalen Keil der Markung Rohrau bildet. Und weil die westlichen Waldteile Rohraus schon Schönbuchwälder sind, wurde einst die ganze Markung Rohrau zum Tübinger Forstamt geschlagen. Heute dagegen gehören alle Rohrauer Wälder zum Forstrevier Ehningen, die westlichen allerdings sind auch Teil des Naturparks Schönbuch, der von Bebenhausen aus verwaltet wird. Die Ketterlenshalde gehört allerdings nicht dazu.
An der Grenze Ehningen/Rohrau steht der Stein Nr. 19; TF = Tübinger Forst. (Foto: Klaus Philippcheck)
Nur knapp 350 Meter weiter westlich steht an der Grenze ein weiterer großer, aber leider etwas angeschlagener Stein. Natürlich wieder mit den Hirschstangen, aber nun mit anderen Buchstaben. Das Gespräch mit dem Ehninger Förster Gerhard Malisi bringt die Erklärung dafür: 1806 war durch Napoleons Gnaden das Königreich Württemberg neu entstanden, ein viel größer gewordenes Territorium durch die zwangsweise Annexion vieler kleinerer Fürstentümer, Reichsstädte und Kirchenbesitztümer. Da musste eine ganz neue Verwaltungsstruktur aufgebaut werden – und das galt auch für die Forstverwaltung. Ganz neue, größere Forstämter und -bezirke entstanden. Endlich wurde eine „Forstdirektion“ als erste zentrale Forstbehörde errichtet und die Ausbildung der Förster wurde verbessert.
Genau dies spiegelt unser zweiter Stein wieder. Es wurde nämlich das Oberforstamt Wildberg gebildet, das auch den Bereich des damaligen württembergischen Oberamts Herrenberg (u.a. mit Nufringen, Hildrizhausen und Rohrau) umfasste und bis 1902 bestand. Ins neue Oberforstamt Leonberg wurde nun auch das ehemalige Revier Böblingen integriert.
An der beschriebenen Grenze im Ketterlenswald trafen sich jetzt also die neuen königlichen Ämter Wildberg und Leonberg. Unser fast versunkener, aber noch erkennbarer Stein Nummer 11 zeigt uns diese neue Sachlage: auf seiner Südseite mit den Zeichen W und F für „Wildberger Forst“, auf der Nordseite mit L und F, natürlich den „Leonberger Forst“ kennzeichnend. Die beiden nahe beieinander gelegenen Steine zeigen also die Veränderungen der württembergischen Forstverwaltung auf. Darum würde es sich auch lohnen, den gekippten Stein wieder aufzurichten und zu reinigen, um ihm wieder seine volle Größe und Bedeutung zurück zu geben.
Im Übrigen führt uns die Ketterlenshalde auch in die Sagenwelt unserer Region. Eine adlige Frau namens Katharina (= Ketterle) soll durch Schenkungen so verarmt gewesen sein, dass sie auch ihren Wald, die Ketterlenshalde, verkaufen musste. Sie selbst sei dann dort begraben worden, wo die Flur an der Grenze zu Aidlingen „Ketterlens Grab“ heißt. Von dort könne sie nun über ihren ehemaligen Besitz schauen.
Stein Nr. 11, der auf den Wildberger Forst hinweist. (Foto: Klaus Philippscheck)
Wenn man heutzutage auf einer Waldkarte die Gemeinde- und Staatswälder betrachtet, dann sehen sie sehr großflächig und übersichtlich aus. Nur manche kleine, verstreute Privatwälder machen das Bild etwas bunter. Das ist früher anders gewesen: Da wäre die Waldkarte ein bunter Flickenteppich gewesen. Viel Kirchen- und Klosterbesitz, Spitalwälder, Stiftungswälder, Gemeinde- und Bürgerwälder, Wälder in Adelsbesitz, auch Besitz von Mühlen und Meierhöfen – und natürlich Besitz der Herrschaft Württemberg. Die nebenstehende Karte zeigt das am Beispiel der Ehninger Ketterlenshalde auf: Innerhalb dieses Waldes im Besitz der württembergischen Herrschaft finden wir einen Vorder – und einen Hinterwald, der der Adelsfamilie Biedenbach gehört; wir finden den Breitschwertschen Wald und einen See im Besitz dieser zweiten Adelsfamilie; aber mitten in der Ketterlenshalde liegen auch der „Höfferwald“, der der Gemeinde Ehningen gehört und die „Ehninger Bürgergärten“. Oft sind solche Wälder noch durch Zehnt-, Steuer- und Jagdgrenzen durchschnitten gewesen.
Durch Aufkauf und Tausch ist es dem Staat in den letzten 150 Jahren gelungen, diesen Wald fast ganz in seinen Besitz zu bekommen und dadurch – wie an vielen anderen Orten – zu arrondieren. Allerdings finden wir noch zwei Waldstücke, die als ehemaliger Besitz der Breitschwerts heute der Ehninger Familie von La Chevallerie gehören. Sie sind die letzten Zeugnisse der Zeiten, in denen Besitzverhältnisse manchmal fast unüberschaubar gewesen sind. Erst die „modernen“ Verwaltungsreformen nach Schaffung des Königreichs Württemberg ab 1806 haben dies Schritt um Schritt geändert.
Die Ketterlenshalde, ein „Flickenteppich“. Waldkarte des 18. Jahrhunderts (H 107/03 Bd. 10, Blatt 256 © Hauptstaatsarchiv Stuttgart; www.landesarchiv-bw.de)
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Der Autor, Klaus Phlippscheck, war Lehrer in Sindelfingen und gehört zu den Mitbegründern des zeitreise-BB-Projektes. Seine Interessensschwerpunkte sind die Sindelfinger Stadtgeschichte, insbesondere die Webereigeschichte, sowie die Wiederentdeckung vergessener Sindelfinger Persönlichkeiten. Daneben arbeitete er auch zur Geschichte der Mühlen und der Grenzsteine im Landkreis BB.