Der Tod des Schorndorfer Obervogts Jakob von Gültlingen (zu Deufringen)
„Man richt mich ohne Urteil und Recht“
Autorin: Gudrun Emberger
In der Nacht vom 9. auf den 10. Oktober des Jahres 1600 ereignete sich zu Geradstetten ein seltsamer Todesfall: Der Schorndorfer Obervogt Jakob von Gültlingen erstach seinen Vetter Konrad von Degenfeld, weil er ihn für ein Gespenst gehalten hatte.
Dass bei einer so abenteuerlich anmutenden Geschichte Alkohol im Spiel gewesen ist, kann man sich wohl vorstellen. Der Täter, Jakob von Gültlingen, schildert den Vorfall so:1
Als er am Donnerstag, dem 9. Oktober, in Geradstetten auf dem Rathaus Vogtgericht gehalten habe, sei am Abend Konrad von Degenfeld ziemlich angetrunken von einer Hochzeit in Waiblingen zu ihm aufs Rathaus gekommen. Da auch Degenfelds Frau sich gerade in Geradstetten aufhielt, nämlich im Hause des Wolf Nikolaus von Züllnhardt, habe Degenfeld ihn eingeladen, bei ihnen über Nacht zu bleiben. Er habe die Einladung angenommen, und „seindt wür lustig, frölich, fridsamb und freundtlich beyeinander gewesen“. Später habe er sich zu Bett begeben und geglaubt, er sei allein in der Kammer, da niemand mit ihm zugleich hineingegangen war.
Dann aber geschah Seltsames:
Ungevehrlich umb Mitternacht, allß ich (reverenter zue melden) daß Waßer entblösen2wöllen und noch aller voller Schlaafs, habe ich das Teckhbetth3, gar seltzam geformirt und gebildet, auff frecht uff dem andern Bett stehen sehen, welches gar abscheulich und forchtsam zu sehen. Alß es sich auch anfangen zu regen und mir doch uff mein Anschreyen, Anreden und Zusprechen kein ain Wortt nicht antwortten wollen, habe ich meinem Jungen zum offtermahl und mit heller lauter Stimm zugeschrien, aber niemand hören oder mir zuelauffen wöllen (indeme such ich mein Wehr), diß vermeinte Gespenst (darfür ich’s auch gehabt) aber sich noch geregt, habe ich auß Forcht und Schreckhen ein solches lautes jämerliches Geschrey zum Laden hinauß nit fern von solchem Bett gehabt, daß es ohnmöglich, es müeßens Leuth in Häusern daselbst herumb gehört haben, mür aber niemand antwortten wöllen. Indeme ich mich nach gedachten vermeindten Gespenst umsehe, ist mir ein Rappir4in die Hand worden, welches ich laider zu meinem großen Unglückh erwüscht. Indeme wischt solches Teckhbetth von demselben Bett herunder auff mich dar, also weich ich zurückh, mit dem Rappir herauß, mit Bedrohung und disen Wortten: Hallt inn, Hallt inn, oder ich stich zue, welches ich auch leider, Gott erbarme es, allß es meiner hertiglich5begehrt, vollbracht. Und durch das Teckhbetth hindurch, so vil mir wißend, welches das Teckhbetth bezeugen würdt, gestochen.“
Epitaph für Jakob von Gültlingen und seine Frau Felicitas, geb. Marschalkin von Ebnit, in der Deufringer Pfarrkirche. (Foto: S. Kittelberger)
Zu spät, erst im Sterben, gab sich das vermeintliche Gespenst zu erkennen – es war Konrad von Degenfeld, der, wie Jakob von Gültlingen dann erfuhr, erst in die Kammer gekommen war, als dieser schon geschlafen hatte. Zu spät auch erfuhr der unglückselige Täter, dass es Degenfelds Manier war, eingehüllt in die Bettdecke, sitzend zu schlafen.
Konrad von Degenfeld war tot, Jakob von Gültlingen wurde sofort verhaftet, und bereits am 14. Oktober erging ein Reskript Herzog Friedrichs von Württemberg an den Untervogt zu Waiblingen, er solle den Pfarrer Jakob von Gültlingen schicken und jenem melden lassen, „sein Sach also darnach zu richten, dann er einmahl seinen wohlverdienten Lohn auch empfangen müeße“. Das heißt, der Geistliche sollte Gültlingen auf den Tod vorbereiten. Am anderen Morgen dann, am Mittwoch, dem 15. Oktober, sollte der Untervogt den Häftling „uff den Marckht führen und daselbsten mit dem Schwerdt vom Leben zum Tode rüchten laßen, denn Wir keinen andern oder lengern Proceß mit ihm halten werden“. So geschah es dann, daß Jakob von Gültlingen, nur fünf Tage nach dem unglücklichen Vorfall, in Waiblingen hingerichtet wurde.
Es wäre sicher vorschnell, dieses Vorkommnis und seine fatalen Folgen als Kuriosum aus einer Zeit abzutun, in der man noch an Gespenster glaubte und in der eben auf Totschlag – wobei wohl auch schon damals auf Putativnotwehr erkannt worden wäre – die Todesstrafe stand. Denn auch damals war es in Württemberg nicht möglich, jemanden ohne ordentlichen Prozess zu verurteilen. Im Tübinger Vertrag von 1514 heißt es dazu: „Es soll auch niemant in pynlichem sachen, wo es eer, lyb oder leben antrifft, anders dann mit urtail und recht gestrafft oder getedt, sunder ainem ieden nach synem verschulden rechts gestattet werden.“ Im Falle Jakob von Gültlingen ist also eindeutig wider das geltende Recht verstoßen worden. Die Oberräte hatten am 13. Oktober dem Herzog gegenüber Bedenken gegen ein vorschnelles Verfahren vorgebracht. Das Protokoll einer in Geradstetten vorgenommenen Vernehmung hatten sie gelesen, doch schien ihnen dies zu dürftig, auch waren anscheinend keine Zeugen befragt worden. So beantragten sie einen ordentlichen Prozess. Doch Herzog Friedrich versah den Bericht seiner Räte mit dem eigenhändigen Vermerk: „Der Rhätt fast zu seych6Bedenckhen haben Wir nicht annehmen können; derhalben haben Wüer geschehen mießen lassen, was der Thätter verschuldt hatt“ – und gab den Bericht erst am 21. Oktober also sechs Tage nach der Vollstreckung des Todesurteils an den Oberrat zurück.
Friedrich I., Herzog von Württemberg (1557-1608). Grafik aus dem Klebeband Nr. 2 der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek Arolsen. (Bild: Wikimedia Commons/Public Domain)
Die Gründe für dieses widerrechtliche Vorgehen des Herzogs sind bis heute im dunkeln geblieben. Es wird zum einen vermutet, der damals in Württemberg allmächtige Kanzler Dr. Matthäus Enzlin, der einflussreichste Berater Herzog Friedrichs, habe aus persönlicher Rache an Gültlingen den Herzog zu diesem Schritt bewogen.7Zum anderem soll auch der Vater des Getöteten, der württembergische Landhofmeister Christoph Martin von Degenfeld, der höchste Beamte des Landes, den Herzog heftig bedrängt und um Vergeltung gebeten haben.
Jakob von Gültlingen hat sein Schicksal tapfer getragen und bis zuletzt seine Unschuld beteuert. Sein Abschiedsbrief an Ehefrau, Mutter und Schwester, den er nicht selbst schreiben durfte, sondern dem Waiblinger Stadtpfarrer M. Caspar Lutz in die Feder diktierte, sei hier vollständig wiedergegeben:
Hertzliebe Haußfrau, die Du mir Jeder Zeith getreu, hab ich Dich belaidigt, so bitt ich umb Verzeyhung. Ich hab auch meniglich verzügen8. Morgen früeh mueß ich sterben, heut den Abend sagt mann mir’s allererst. Ich bitte Dich umb Gottes willen rette mein Treuen und Glauben.
Nimm Deine Freundt9zu Hülff; so es rhatsam. Verkauff Deuffringen, zahle Schulden und zeuch mit den yberigen außer Landts, wahin Du wilt. Sihe umb Gottes willen, das unsere Kinder in Zucht, Gottesforcht und Ehr aufferzogen werden, und verlaß unßer Mueter nicht, die mir auch verzeyhen soll, so ich sie belaidigt. Du, meine Mueter und Schwester, haltet zuesamen, seid fridlich und einig, so gibt Gott Glückh. Und siche, daß unsere Kinder nicht trinckhen lernen, denn durch dasselbe komme ich in das Unglückh. Vergiß der Armen nicht, nim mein Abschid von meiner Muetter und sihe, das redliche Vormunder verordnet werden, dem Pfarrern magstu auch etwaß verehren, deßgleichen denen, die auff mich gewarttet und mein Leuchnam in die Paar10gelegt. Und waß Dich Osshaimer11beschaiden würdt, hallt wol Hauß, vergiß unsere Kinder nicht. Kanstu aber auß dem Land Würtemberg kommen, so thue es. Meine Büecher heb wohl auff, ein geschriben Buech wirstu finden, stehen allerhandt unnütze Stückhlein darinnen, verbrenne es, das die Kinder nicht darüber kommen, gibt nichts gueths. Ich kan Dir nicht mehr schreiben, ich hab mit dem Ewigen zue thuen, mann richt mich ohne Urtheil und Recht, mueß es eben leyden, will doch meniglich verzügen haben. Gott verzeyhe ihnen auch.
Hertzliebe Schwester, behüete und gesegne Dich sambt unser Mueter auch Gott. Wolan, ich mueß morgen sterben. Besinne Dich, das Du soferre hinweeg ziehest. Liebe Haußfrau, bitte meine Schwester, daß sie eine Zeitlang bey Dir bleibe, damit Du nicht gar verzagest, und gehabe Dich wol. Unsere Kinder sollen zuem Studiern mit Rhat der Freundt fleißig gehalten und in allen Tugendten geübt werden. Den Schwager Osshaimer gesegne ich auch.
Ist es möglich, Deuffringen zu verkauffen, wollet Ihrs thuen, dan unsere Kinder gewißlich auch kein Glückh in diesem Landt, bitte umb Gottes willen, siche, das die Schulden zahlt, darmit ich ihne spott, unsere Freundt werden Dir wohl ein Rhat geben.
Mein Copey diser beschehenen That soll mann offt abschreiben laßen und gueten Freunden zuschickhen. Du wirst ein Büechlein im schwartzen GoldLedlin finden, darinnen stehet ein Gebett, welches ich vor 10 oder 12 Jahren gemacht, alß mir so widerig bißweilen, habs seithero nit gesehen, daß Du nicht meinen möchtest, es were neulich geschehen. – Mein Ketlen12hab von mir, sonsten ist es alles Dein. Die Kinder werden Dir, ob Gott will, vollgen, biß sie erwachßen, kanstu, ob Gott will, etwaß erspahren. Freundtliche liebe Schwester. Ich hab Dir getrauet, Du bist noch unverziehen. Ich bitte Dich umb Gottes willen, muethe meiner lieben Haußfrauen und Kindern nichts zu, es würdt ohn das hart halten. Liebe Haußfrau, weilen ich ohne Urthel und Recht sterben mueß, rede dannoch mit unsern Freunden darauß, ob solches nicht zu rechtfertigen. Doch rede Du nicht zue vihl, muest es sonst zu Deuffringen entgeltten. Ich hab kein Schreiben heraußgeben dörffen, habs alle müeßen leßen laßen.
Jacob won Gültlingen“
Das Deufringer Schloss. Der Renaissancebau wurde wohl Ende des 16. Jahrhunderts von Jakob von Gültlingen erbaut und war der Sitz des Deufringer Zweiges der Adelsfamilie. (Foto: Susanne Kittelberger)
Von Deufringen ist in dem Brief die Rede, und dass seine Ehefrau Felicitas es verkaufen solle. Gemeint ist damit das Dorf Deufringen13, das seit 1402 Lehen der Herren von Gültlingen war. Die Herren von Gültlingen sind ein altes schwäbisches Adelsgeschlecht, das seit 1165 bezeugt ist. Stammsitz und bis 1445 Hauptgut der Familie war der Ort Gültlingen.14Die Familie verzweigte sich später, und ein Zweig saß in Deufringen. Jakob von Gültlingen hatte dort wohl zwischen 1592 und 1594 ein Schloss bauen lassen, da er von seinen Vorfahren nur „ein schlecht Heußlin von Holtzwerckh“ geerbt hatte, das aber baufällig und nicht mehr standesgemäß war15. Für diesen Bau hatte Gültlingen mehrfach Geld aufnehmen müssen 16. Felicitas von Gültlingen hat versucht, beim Herzog die Erlaubnis zum Verkauf Deufringens zu erlangen, doch blieb ihre Supplik ohne Antwort 17.
Noch eine weitere Bitte an seine Frau hatte Jakob von Gültlingen Pfarrer Lutz aufgetragen:
„Denn Grabstein soll mann ihme zue Deuffringen zuerichten, Ursach seines Todts vermelden, dann er einmahlen nicht gemeindt, das er ein Menschen vor ihm habe, sondern gemeint, es ein Gespenst seye.“18
Nur die Hälfte dieses Wunsches wurde erfüllt. In der evangelischen Kirche zu Deufringen wurde ein Grabmal für Jakob von Gültlingen und seine Ehefrau errichtet; auf die Hintergründe seines Todes wird in der Inschrift aber nicht hingewiesen. Sie lautet schlicht:
ANNO DOMINI 1600 DEN 15. OCTOBRIS
ENDET WEILAND JACOB VON
GÜLTLINGEN ZU DEUFFRINGEN
SEIN LEBEN. ANNO 1602 STARB
FELICITAS VON GÜLTLINGEN EIN
GEBORNE MARSCHELCKHIN VON
EBNIT, SEIN EHLICHE HAUSFRAU, DEN 10.
NOVEMBRIS. DENE BEDEN GOTT GNAD. A(men).
Zu einer Rehabilitierung des Schorndorfer Obervogts Jakob von Gültlingen kam es nicht, die Hintergründe seiner vorschnellen Verurteilung wurden nie aufgedeckt. Doch bot sein tragisches Schicksal Stoff für mancherlei literarische Darstellungen. Bereits zu Beginn des Jahres 1601 wurde von einem Unbekannten ein 102 Strophen langes Lied verfasst: „Die histori, end und geschicht des traurigen zustands weiland des edlen und vesten junker Jacob von Gültlingen, zu Teuferingen zwischen auch dem edlen und vösten junkern Conrad von Degenfeld, in gesangs weis verfaßet“19Mit starken Abänderungen gelangte dieses Lied unter dem Titel „Die Nachtwandler“ in die Liedersammlung „des Knaben Wunderhorn“.20In Prosa schilderte Wilhelm Zimmermann die Geschichte Jakob von Gültlingens.21In dramatische Form schließlich brachte den Stoff Maria Hauska, deren Schauspiel in acht Bildern „Die Tragödie des Jakob von Gültlingen“ bei den Geradstettener Heimattagen 1960 uraufgeführt wurde.
Inschrift auf dem Grabmal Jakob von Gültlingens und seiner Frau Felicitas; die Hintergründe seines Todes werden darin nicht erwähnt. (Foto: S. Kittelberger)
Erstveröffentlichung: Aus Schönbuch und Gäu. Beilage der Kreiszeitung Böblinger Bote. Herausgegeben unter Mitwirkung des Heimatgeschichtsvereins, 4/1992.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Für die Online-Publikation auf www.zeitreise-bb wurde die Rechtschreibung den aktuellen Regeln angepasst.
Dr. Gudrun Emberger studierte Geschichte, Historische Hilfswissenschaften und Anglistik in Tübingen und Bangor (North Wales); Promotion im Fach Geschichte an der Freien Universität Berlin; langjährige Arbeit als freiberufliche Historikerin und als Wiss. Mitarbeiterin am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.
Referenz
↑1 | Das Folgende, auch der Text des Abschiedsbriefes, aus Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS) A 153 Bü 97. |
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↑2 | das Wasser entblößen = urinieren |
↑3 | Teckhbetth = Deckbett |
↑4 | Rappier = eine Form des Degens; Fecht- und Duellwaffe. |
↑5 | hertiglich = hart, unbarmherzig |
↑6 | seych = seicht, oberflächlich; fast = sehr |
↑7 | Dr. Matthäus Enzlin musste für seinen Einfluss büßen; nach dem Tod Herzog Friedrichs wurde er gestürzt, in Haft genommen und am 22. November 1613 auf dem Uracher Marktplatz enthauptet. |
↑8 | männiglich verziegen = jedermann verzeihen |
↑9 | Freunde = Verwandte |
↑10 | Paar = Bahre |
↑11 | Gemeint ist Gedeon von Ostheim, Obervogt in Tübingen. Ostheims Ehefrau war die Base von Felicitas von Gültlingen. |
↑12 | Ketlen = Kettchen |
↑13 | Heute Gem. Aidlingen, Lkr. Böblingen |
↑14 | Heute Stadt Wildberg, Lkr. Calw |
↑15 | HStAS A 157 Bü 171. |
↑16 | HStAS A 157 Bü 171; A 157 U 1255. |
↑17 | HStAS A 222 Bü 356. |
↑18 | HStAS A 153 Bü 97. |
↑19 | Abgedruckt in Karl Steiff und Gebhard Mehring: Geschichtliche Lieder und Sprüche Württembergs. Stuttgart 1912. S. 448-458. – Als Verfasserin des Liedes wurde eine Schwester Gültlingens vermutet, doch kann ihre Autorenschaft nicht nachgewiesen werden. |
↑20 | Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Gesammelt von Ludwig Achim von Arnim und Clemens Brentano. Berlin 1846. Bd. 2, S. 264-270. |
↑21 | Wilhelm Zimmermann: Kabinetsjustiz oder Jakob von Gültlingen. In: Württemberg, wie es war und ist. 1. Aufl. Bd. 2. Stuttgart 1854. S, 350ff. |