Der schiefe Turm im Gäu
Die Mauritiuskirche in Mötzingen
Autorin: Susanne Kittelberger
Der Turm der Mauritiuskirche ist das Wahrzeichen der Gemeinde Mötzingen. Mit seinem spitz zulaufenden Schieferdach und dem markanten Fachwerk bildet er einen weithin sichtbaren Orientierungspunkt. Schon immer war er aber auch ein Sorgenkind. Im April 1868 schlug bei einem Gewitter der Blitz so gewaltig darin ein, dass nicht nur der Turm, sondern die gesamte Kirche massiv beschädigt wurde.
Mittlerweile ist das Problem ein anderes: Der Turm ist in den letzten Jahrzehnten in Schieflage gekommen. Ganze 22 cm ist er inzwischen aus dem Lot (Stand 2018) und neigt sich sowohl merklich in Richtung des Kirchenschiffs als auch in Richtung der Straße. Feuchtigkeit, Pilze und Insekten haben dem Tragewerk in den letzten Jahrzehnten so zugesetzt, dass in naher Zukunft dringende Baumaßnahmen anstehen, durch die der Turm gesichert und wieder gerade gerückt werden soll. Das Fachwerk war eigentlich nie als Sichtfachwerk geplant. Erst bei einer Renovierung in den frühen 1960er Jahren wurde es freigelegt, um dem Gebäude ein lebendigeres Aussehen zu verleihen. Bereits 1985 waren Nachbesserungen notwendig. Nun überlegt man, das Fachwerk nach der anstehenden Renovierung wieder unter Putz zu legen.1
Mit gut 225 Jahren gehört die Mötzinger Mauritiuskirche nicht gerade zu den ältesten Kirchenbauten in unserem Raum. Wie die Jakobuskirche in Haslach wurde sie im Jahre 1792 neu erbaut, weil der noch aufs Mittelalter zurückgehende Vorgängerbau immer baufälliger wurde. Und wie diese geht sie auf einen Plan des württembergischen Landoberbauinspektors Johann Adam Groß (der Jüngere) zurück.
Groß (1728-1794) entwarf – einem gängigen Modell für evangelischen Kirchenneubauten auf dem Lande folgend – einen schlichten rechteckigen Saal mit mächtigem Walmdach, hohen Rechteckfenstern und einem Turm, der hier so weit in das Schiff hineingezogen wurde, dass er von der Wirkung her eher einem Giebelreiter gleicht.
Die Mötzinger Mauritiuskirche mit schiefem Turm. Foto 2003. (Foto: S. Kittelberger)
Auch wenn die eigentlichen Bauakten nicht mehr vorliegen, sind wir aufgrund der Untersuchungen des ehemaligen Herrenberger Stadtarchivars Roman Janssen relativ gut über das Mötzinger Bauvorhaben informiert.2
Ab Mitte des 18. Jahrhunderts mehrten sich die Klagen über den unhaltbaren Zustand des alten Gebäudes. Ab 1780 kam Bewegung in die Sache, als mit Philipp Heinrich Frommann ein engagierter neuer Pfarrer seine Stelle antrat. Frommann hatte den ausdrücklichen Auftrag „der Zusammenführung und Erneuerung“ der Gemeinde.3 Für die Landeskirche war Mötzingen ein schwieriges Terrain, galt es doch als Pflanzschule des Separatismus. Dieser war im Gäu schon immer besonders stark und wurde in Mötzingen durch den auf dem Schlossgut ansässigen Ortsadel, der Familie von Leinigen, über viele Jahre aktiv gefördert.
Pfarrer Frommann machte den Neubau der Kirche nun auch im übertragenen Sinn zu seiner Sache. 1782 reichte die Gemeinde ein Bittgesuch beim Oberkirchenrat ein, in dem der „unschikliche Zustand“ der Kirche mit dramatischen Worten geschildert wurde. Einen Kostenüberschlag für einen Neubau samt Gebäuderiss von Zimmermeister Lambacher legte man gleich bei.4Der Kirchenrat in Stuttgart ließ sich indes nicht unter Druck setzen und so begann eine lange Phase des Hin und Her, in der neben einem Neubau auch eine Renovierung in Erwägung gezogen wurde.
1789 legte Kirchenratsbaumeister Wilhelm Friedrich Goez schließlich Vorschläge zur Erweiterung der Kirche vor. Erst nach einer nochmaligen Prüfung im Jahre 1790 gelangte man aber zur Ansicht, dass die Kirche „um ihrer gänzlichen Unbrauchbarkeit willen von Grund aus abgebrochen und ganz neu erbaut werden müsse“. Diesen Sinneswandel verdankte die Gemeinde dem Eingreifen von Landoberbauinspektor Groß, der zwischenzeitig das Mötzinger Bauwesen „beaugenscheinigt“ hatte. Am 2. Februar 1790 legte er einen Riss mit Kostenplan vor und bereits am 16. Februar erteilte das Oberamt in Herrenberg den Baubefehl.“5
Die Kirche von Mötzingen von Nordwesten her gesehen. (Bild: S.Kittelberger)
Nach langjähriger Planungsphase konnte es nun endlich losgehen. Doch die Dinge nahmen einen höchst erstaunlichen Lauf, denn nun – so Roman Janssen – verkehrten sich plötzlich die Rollen. „Jetzt wollte die Gemeinde keine neue Kirche, jedenfalls nicht die von Groß geplante!“6
Plötzlich gab es im Dorf allerlei fadenscheinige Einwände gegen das Bauvorhaben, die kurz vor Weihnachten 1891 in einem „skandalösen Aufstand“ gegen das Projekt gipfelten. Der Oberamtmann in Herrenberg erhielt die Anweisung, den „Tumult“ zu untersuchen. Um ausfindig zu machen, weshalb sich die Bürger den Groß’schen Bauplänen so heftig widersetzten, wurde sogar ein „Kunstverständiger“ hinzugezogen. Danach ging es dann freilich ganz schnell und „nach Jahresfrist stand die neue Kirche“.7
Auch Roman Janssen ging der Frage nach, weshalb die Mötzinger Kirchengemeinde die Baupläne des Landoberbauinspektors damals so strikt ablehnte. Er verwies dabei auf die Herrenberger Oberamtsbeschreibung von 1855, die befand, die Ortskirche sei in einem „nicht kirchlichen Styl“ erbaut und habe „nichts bemerkenswertes“. Julius Rieder fällte 1913 in seinen Beiträgen zur Ortschronik von Mötzingen ein ähnliches Urteil.8
Auch wenn wir 150 Jahre später wieder anders urteilen, so fällt der schematische Charakter vieler Kirchenbauten dieser Zeit durchaus ins Auge. Der vielbeschäftigte Groß hatte damals sicher weder Zeit noch den Anspruch, besonders individuelle Lösungen zu präsentieren. Gerade dieser Hang zum Schematismus ist es, der Groß heute als typischen Vertreter absolutistischer Architektur und Stadtbaukunst erscheinen lässt. Nicht nur in der Stadtplanung, – man denke nur an seinen Rasterplan zum Wiederaufbau von Gültstein nach dem großen Brand von 1784 – , auch in der Architektur war eine gewisse Einheitlichkeit im Aussehen der Gebäude ausdrücklich erwünscht und wurde durch die Bauvorschriften Herzog Karl Eugens bewusst herbeigeführt.9
Was damals im Falle Mötzingens den Unmut der Bevölkerung ausgelöste, hatte vermutlich jedoch andere Gründe. War es, wie Roman Janssen mutmaßte, dass Groß bei seiner Planung vom Grundriss der alten Kirche in einigen entscheidenden Punkten abwich?10Tatsächlich hob er die traditionelle West-Ost-Orientierung des Schiffs auf und richtete seine Kirche stattdessen mit der Längsseite an der Straßenflucht aus. Auch im Innen löste er die Längsausrichtung auf und er konzipierte den Raum als querrechteckigen Predigtsaal.
Auch heute fällt es gelegentlich schwer, sich von alten Traditionen zu verabschieden. Janssens Einwand, dass die Stuttgarter Schlosskirche, als erster in Württemberg erbauter evangelischer Kirchenbau, die charakteristische Querorientierung bereits im 16. Jahrhundert einführte, hat die Mötzinger Kritiker damals vermutlich wenig beeindruckt. Mittlerweile haben sie ihre Kirche trotzdem liebgewonnen und empfinden sie als Wahrzeichen ihrer Gemeinde. Zusammen mit dem ebenfalls aus dem 18. Jahrhundert stammenden Pfarrhaus, der Scheuer, dem großen Garten und dem alten Waschhaus findet sich nun in Mötzingen das schöne Beispiel eines „altwürttembergischen Ensembles“11wie es nicht mehr allzu oft im Lande zu finden ist.
Mauritiuskirche in Mötzingen von Südosten gesehen. Am rechten Bildrand sieht man das Pfarrhaus. (Foto: Susanne Kittelberger)
Von der Mötzinger Mauritiuskirche hören wir erstmals kurz vor 1100 im Codex Hirsaugiensis, als sie als Schenkung des Adalbert von Salzstetten in den Besitz des Klosters Hirsau wechselt. Seither waren Kirche und Ortsherrschaft im Dorf voneinander getrennt. Die Kirche war damals eine Pfarrkirche mit eigenem Friedhof und eigenem Zehntbezirk. Mitte des 15. Jahrhunderts erwarb das Stift Herrenberg das Patronat und inkorporierte 1451 die Kirche. Zur Zeit der Reformation lag die Religionshoheit im Dorf immer noch bei den Ortherren, den Herren von Rodenstein. Diese bestimmten, dass es „in Religionsdingen im Flecken Mötzingen wie im Fürstentum Württemberg gehalten werden soll“.12
Die 1792 abgerissene alte Kirche war geostet und möglicher Weise eine Chor-Seitenturmanlage. Ein 1789 angefertigter Grundriss dokumentiert ein Gebäude mit massiven Außenmauern und halboktogonalem Chorabschluss.
Von der alten Kirche haben sich zwei Ausstattungsstücke aus vorreformatorischer Zeit erhalten: ein spätgotisches Kruzifix und ein vergoldeter silberner Kelch mit Patene.
Links und Literatur
Evangelische Mauritius-Kirche in Mötzingen, 1792-1992. Hrsg.: Ev. Kirchengemeinde Mötzingen, Mötzingen 1992.
Roman Janssen, „Von der alten zur neuen Kirche“. In: Evangelische Mauritius-Kirche in Mötzingen, 1792-1992, S. 23-38. Hrsg.: Ev. Kirchengemeinde Mötzingen, Mötzingen 1992.
Roman Janssen, „St. Mauritius in Mötzingen bis zur Reformation“. In: Evangelische Mauritius-Kirche in Mötzingen, 1792-1992. Hrsg.: Ev. Kirchengemeinde Mötzingen, Mötzingen 1992, S. 7-22.
Kirchen im Landkreis Böblingen. Hrsg.: Ev. Kreisbildungswerk und Kath. Bildungswerk Kreis Böblingen, Redaktion: Fritz Heimberger, München/Zürich 1990, S.59.
Julius Rieder, Beiträge zur Ortschronik von Mötzingen, Tübingen 1913. Neu aufgelegt in: Mötzinger Chronik, hrsg. im Jubiläumsjahr 1995 zur 900-Jahr-Feier von der Gemeinde Mötzingen, Horb am Neckar 1995.
Adolf Schahl, „Groß, Johann Adam der Jüngere“ in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 138, Online-Version: URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd136140815.html#ndbcontent
„Der schiefe Turm von Mötzingen“. Artikel in der Kreiszeitung/Böblinger Bote (Archiv) 6/2018
„Der schiefe Turm wird wieder geradegerückt“. Artikel im Herrenberger Gäuboten vom 22.6.2018
Referenz
↑1 | Siehe hierzu den Artikel im Herrenberger Gäuboten „Der schiefe Turm wird wieder geradegerückt“ vom 22.6.2018 |
---|---|
↑2 | Roman Janssen, „Von der alten zur neuen Kirche“. In: Evangelische Mauritius-Kirche in Mötzingen, 1792-1992, S. 23-38. Hrsg.: Ev. Kirchengemeinde Mötzingen, Mötzingen 1992. |
↑3 | R. Janssen, a.a.O., S.30 |
↑4 | R. Janssen, a.a.O., S.31 |
↑5 | R. Janssen, a.a.O., S.34 |
↑6 | R. Janssen, a.a.O., S.35 |
↑7, ↑10 | R. Janssen, a.a.O., S.36 |
↑8 | Nicht mal 70 Jahre nach seiner Erbauung war das Kirchengebäude damals bereits wieder aus der Mode gekommen. Kirchen baute man im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert im neogotischen oder später auch neuromanischen Stil. |
↑9 | Siehe hierzu Adolf Schahl, „Groß, Johann Adam der Jüngere“ in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 138, Online-Version: https://www.deutsche-biographie.de/pnd136140815. html#ndbcontent . |
↑11 | Kirchen im Landkreis Böblingen. Hrsg.: Ev. Kreisbildungswerk und Kath. Bildungswerk Kreis Böblingen, Redaktion: Fritz Heimberger, München/Zürich 1990, S.59. |
↑12 | Roman Janssen, „St. Mauritius in Mötzingen bis zur Reformation“. In: Evangelische Mauritius-Kirche in Mötzingen, 1792-1992, S. 7-22. Hrsg.: Ev. Kirchengemeinde Mötzingen, Mötzingen 1992. |