Der Altdorfer war seiner Zeit weit voraus
Johann Michael Hahn
Autor: Hans-Dieter Frauer
Vom kleinen Adelsgut Sindlingen aus hat Michael Hahn (1758 – 1819) große Wirkung entfaltet. Hier verfasste er seine tiefsinnigen Schriften. Die nach seinem Tode herausgegebenen 15 Bände umfassen etwa 16 000 Seiten, darunter sind rund 2 000 Lieder mit über 10 000 Versen. Mit ihnen hat der Bauernsohn aus Altdorf, der nie eine höhere Schule besuchte, vieles zur geistlichen Prägung Württembergs beigetragen.
Michael Hahn ist aber nicht nur eine Gestalt der Vergangenheit – seine Gedanken und Überlegungen sind erstaunlich zeitgemäß: So hat er etwa bereits vor 200 Jahren, als es das Wort “Umwelt“ noch überhaupt nicht gab, Überlegungen über einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur angestellt (Der von Gott entfernte Mensch treibt Raubbau mit der Natur“). Als das Wort von der “multikulturellen Gesellschaft“ noch gar nicht erfunden war, war ihm bereits der brüderliche Umgang aller Menschen miteinander wichtig. Mit seiner lebenslang entschieden vertretenen Auffassung von Gewissens- und Entscheidungsfreiheit des Menschen hat er den Weg in die Moderne gebahnt und mit seinen Überlegungen über ein vom Glauben her geprägtes („geheiligtes“) Leben ist er bis heute aktuell.
Johann Michael Hahn wurde am 2. Februar 1758 in Altdorf geboren. Seine Mutter starb früh, der Vater und dessen zweite Frau konnten mit dem stillen und klugen Kind nichts anfangen. Eine Metzgerlehre, zu der ihn der Vater zwang, muss für den hochsensiblen Jungen eine Qual gewesen sein – er brach sie ab und verließ das Elternhaus. Nach dem Tod der Stiefmutter 1780 kehrte Hahn nach Altdorf zurück. Er war sich jetzt seiner Berufung gewiss und sprach in den örtlichen “Privatversammlungen“. Bald stellten sich Zuhörer auch von auswärts ein. Altdorf wurde zur „heiligen Mitte Württembergs“ und Menschen nahmen bis zu zwölfstündige Fußmärsche auf sich, nur um ihn zu hören. Das blieb nicht verborgen. Wegen seiner unangepassten Frömmigkeit war er lange einem geradezu schikanösen Umgang der kirchlichen Behörden ausgesetzt. Hahn zog sich schließlich im Jahre 1794 nach Sindlingen zurück, das damals – staatsrechtlich betrachtet – Ausland war. Württembergische Kirchen- und Landesbehörden konnten ihm dort nichts anhaben. Zudem hielt dort die fromme Franziska von Hohenheim, die zweite Frau von Herzog Karl Eugen und selbst eine Pietistin, ihre schützende Hand über ihn.
Johann Michael Hahn (1758 -1819) aus Altdorf. Auf den Laientheologen geht die pietistische Hahnsche Gemeinschaft („Michelianer“) zurück. (© Landesmedienzentrum Baden-Württemberg / Ernst Suhrkamp. Signatur LMZ052483)
Hahns gedankentiefe Werke sind nicht einfach zu verstehen. Nach zwei „Zentralschauen“, die ihn nach eigenem Bekunden „in die innerste Geburt und allen Dingen ins Herz“ sehen ließen und nach einem langen Nachdenke- und Lernprozess, schrieb er ab etwa 1813 eine Zusammenfassung seiner Gedanken und Erfahrungen. Die Bibel ist für ihn ein lebendiger Organismus, der Mensch soll sie nicht nur wörtlich, sondern auch “mystisch“ verstehen, fühlen, was er aus ihr weiß; das Wissen um Gott soll wachsen und reifen. Das „theosophische Verstehen“ der Schrift zeigt die Vielfalt der Werke Gottes: Jede Pflanze, jedes Tier, jeder Mensch ist von Gott (brüderlicher Umgang miteinander ist daher selbstverständlich), umgekehrt sind sie alle nur ein Teil der Gesamtheit des von Gott Geschaffenen.Der Abfall des Menschen von Gott ist schuld am Chaos auf der Erde, der Mensch ist des Menschen Wolf. Aus Selbsterkenntnis, Glaubenserfahrung und Sehnsucht wächst die Wiedergeburt. Der Fromme hat Teil an der ersten Auferstehung, er bleibt – wie Christus – nur drei Tage im Tod. Die anderen Seelen müssen nach dem Sterben einen längen Weg der Läuterung gehen; erst dann wächst auch bei ihnen die Erkenntnis und sie finden ebenfalls heim.
Im Geburtshaus von Michael Hahn (1758-1819) wurde 2015 das Altdorfer Heimatmuseum eröffnet. (Foto: S. Schmidt)
In Sindlingen konnte Hahn ungestört nachdenken und schreiben. Dem zeitlebens Unverheirateten (noch auf seinem Grabstein steht das Wort „ledig“) standen Anton Egeler (1770 bis 1850) aus Nebringen und Johann Martin Schäffer (1783 bis 1851) aus Unterjettingen zur Seite. Sie sind darum in das berühmt gewordene Fünf-Brüder-Bild aufgenommen worden. So wie zuvor Altdorf wurde nun Sindlingen von immer mehr Menschen aufgesucht. Hahns Ansprachen lockten Tausende herbei. Daneben übte er eine ausgedehnte Seelsorge, schrieb viel und korrespondierte viel mit führenden Pietisten. Aus der Gruppe seiner Freunde ist die heute noch in ganz Württemberg anzutreffende Hahn’sche Gemeinschaft hervorgegangen. Um 1815 zählte sie 10 000 bis 15 000 Mitglieder, heute werden zu dem 1874 auch formell gegründeten Verband etwa 370 örtliche Gemeinschaften mit rund 5000 Besuchern gerechnet. Sie sind vor allem im Schwarzwald, im Remstal und auf den Fildern anzutreffen – außerdem im Gäu: Der Gemeinschaftsbezirk Herrenberg zählt immerhin noch neun örtliche Gemeinschaften mit regelmäßigen Zusammenkünften. In ihnen wird zuerst die Bibel gelesen, daneben spielen die Schriften und das “Liederkästlein“ von Hahn eine beherrschende Rolle, ferner die Schriften und Predigten Oetingers.
Hahn wurde schon zu Lebzeiten als eines jener Originale bezeichnet, “wie sie in Jahrhunderten nur ein Mal vorkommen“. Er wuchs immer mehr in die Rolle eines führenden Pietisten hinein und sollte 1819 Leiter der damals neu entstehenden Brüdergemeinde Korntal werden. Der seit längerem Kränkelnde starb aber am 20. Januar 1819 in Sindlingen und wurde dort am 23. Januar bestattet.Teilnehmer der Trauerfeier Michael Hahns haften überliefert, dass es an diesem Tage heftig geregnet habe. Etwa eine Viertelstunde, ehe der Sarg aus dem Haus getragen worden sei, brach aber die Sonne durchs Gewölk und ein kräftiger, bunter Regenbogen “überwölbte als Gnadenzeichen die Leiche vor dem Haus, reichte in seiner Halbkreisform auch über das Grab und hielt so lange an, bis der Sarg ins Grab gesenkt und die Trauerbegleitung sich von dem Totengarten wieder entfernt hatte“.
Kolorierte Variante des bekannten „Fünf-Brüder-Bildes“. Es versammelt die prägenden Persönlichkeiten des württembergischen Pietismus um einen (fiktiven) Tisch. Von rechts nach links: Michael Hahn (1758-1819), Immanuel Gottlieb Kolb (1784-1859), Johann Martin Schäffer (1763-1851), Anton Egeler (1770-1850) und Johannes Schnaitmann (1767-1847). Im Vordergrund steht ein leerer Stuhl. Für ihn gibt es zwei Deutungen: Die einen sehen darin eine unaufdringliche Einladung an den Betrachter, sich der Brüdergemeinschaft anzuschließen, die anderen deuten den leeren Stuhl als Sinnbild für die Gegenwart Gottes. (Bild: Wikimedia Commons/Public domain)
Ein interessantes Zeugnis für Michael Hahns angespanntes Verhältnis zur Amtskirche ist uns in Form eines Briefes des damaligen Pfarrers von Hildrizhausen, Magister Klemm, überliefert. Dieser verfasste 1787 ein diffamierendes Schreiben über Hahn und ließ es unter dem Titel „Ein neuer Messias“ drucken.
Magister Klemm: "Ein neuer Messias", 1787
„Schon lange werde ich von unzähligen Personen aus der Nähe und der Ferne in der Sache des Schwärmers Hahn in Briefen gefragt und von Manchen getadelt. Meine Amtsgeschäfte gestatten mir nicht, noch ferner Jedem besonders zu antworten. Ich rücke daher die wichtigsten Punkte, so wie ich sie aus weitläufigen Akten gezogen, als eine Endantwort an Alle ein, und bitte nun mich mit ferneren Fragen zu verschonen.
Michael Hahn, ein noch sehr junger, lediger Metzger und Bauernknecht aus Altdorf, Bebenhäuser Oberamts, insgemein der Altdorfer Michele genannt, richtet schon seit einigen Jahren nicht nur in meiner Gemeinde, sondern auch weit und breit im Lande, große Verwirrungen an. Dieser Mensch gibt sich für die zweite Person in der Gottheit aus. Wenigstens folgt dieß aus seinem, an den seeligen Pfarrer Helferich geschriebenen Brief, der wörtlich also anfanget: „Jehova gebe sich Ihnen durch die sieben Geister Gottes wesentlich zu erkennen, so werden Sie von Gott und mit mir durch einen Neujahrswunsch erfreut, und mit Gnade und Friede gegrüßet seyn.“
Er will mit Christo auf einem weißen Pferd kommen. Denn so lautet der Beschluß des besagten Briefs: „Doch ich muß eilen und fortwachsen mit denen im Geisterreich, will ich anders mit ihnen kommen auf weißen Pferden.“
Er behauptet die Wundergabe zu besitzen. Aber noch ist keines seiner Wunder gerathen, und der Name Gottes ist bei jedem Versuche schröklich von ihm gemisbraucht worden.Auch seine Schülerinnen wollen Wunder thun. Eine von ihnen war bei der Feuersbrunst in Gültstein nicht aus dem Haus zu bringen, das schon in vollen Flammen stund, sondern ließ sich in der Versuchung Gottes zu Asche verbrennen.
Er schreibt Vieles. Und seit kurzer Zeit überschrieb er zwey Riß Papier. All diß geschrieben will er, wann es Zeit seyn werde, drucken lassen. Er verfertiget viele Lieder. Etliche derselben sind in Versammlungen von mehr als hundert Personen gesungen worden. In einigen dieser Lieder ist manch Erbauliches. Aber das Gute daran ist nicht neu und das Neue ist nicht gut.
Er schalt mich einen Geisteslästerer, da ich ihm bei dem Protokoll nach der Haube griff, da ich ihm bewies, daß er keinen weder mittel- noch unmittelbaren Beruf von Gott habe. Diß brachte ihn in Wuth, und weil er sich sonst nicht zu helfen wußte, so schimpfte er. Drei Tage darauf, nachdem ich mein Protokoll eingeschickt hatte, schrieben drei Weibspersonen einen gar leichtfertigen Brief an mich: warum ich mich unterstehe, meine Hand an den Gesalbten des Herrn zu legen? Ich solle aufhören, mir den Zorn auf den Tag des Zorns zu häufen. Sie wollten Tag und Nacht betten, daß Gott seine Auserwählte von mir rette. Weit entfernt mich darüber zu ärgern, bat ich für sie und bezeuge, daß sie als Irrende nicht gestraft werden könnten. Das einige wünschte ich, daß sie nicht ferner an mich schreiben und wegen meiner Bekehrung unbesorgt seyn möchten. Gewöhnlich gehören Streiche auf die Rücken der Narren. Ich bestrebte mich aber immer bisher, den Irrenden mit Belehrung und endlich mit gelinden Bestrafungsmitteln zurecht zu bringen, nemlich mit Worten. Ich habe ihm zuletzt aus meiner Gemeinde ausgeboten. Ich menge mich nicht in seine Pflug- und Brodarbeiten, kann aber auch nicht ferner zugeben, daß er mich in meinem Lehramte störe. In Ehesachen mengt er sich sehr viel, zu vieler Beschwerung schwacher Gewissen. Bald kommen Zinzendorfische Schäzel, bald andere Grundsätze verliebter fromm syen wollender Schwärmer aufs Tapet.
Er ist ein hübscher Mann, daher werfen die Schäzel sehr devote Blicke auf ihn. Diß ist es, was ich allen Fragenden zur Antwort geben kann.
Magister Klemm, Pfarrer zu Hildrizhausen.“
Quelle: Aus Schönbuch und Gäu – Heimatgeschichtlichen Beilage des Böblinger Boten, 4/1954.
Michael Hahn hat der Nachwelt rund 2000 Lieder hinterlassen. Typisch für sein Denken ist der bekannteste Liedvers „Ach, entdeck mir mein Verderben …“, der auch Eingang ins Evangelische Kirchengesangbuch gefunden hat.
"Ach, entdeck mir mein Verderben"
2. Du erforschest Herz und Nieren, siehest mein Verderben schon; du wollst mich ins Innre führen / und vor deinen Richterthron. Allda, Herr, entdecke mir / alles, was nicht ist von dir.
3. Wenn ich andre Menschen finde / wider deinen Willen tun, zeig mir daran meine Sünde! In mir wird ein Gleiches ruhn. Gib, dass ich unnützer Knecht / mich nicht halte für gerecht!
4. „Selbstgerecht“ und „neugeboren“ / ist ein großer Unterschied. Selbstgerechte gehn verloren, haben weder Ruh noch Fried; Neugeborne gehn allein / in das Reich der Himmel ein.
5. Freilich kann’s ein Mensch nicht glauben, wenn er noch vom Lichte fern, wie er Gott will Ehre rauben / und dem Heilande, seinem Herrn, wenn er so als selbstgerecht / gerne selig werden möchte.
6. Laß mich, Herr, dein Licht durchleuchten, so schau ich mich, wie ich bin! Dann lern ich von Herzen beichten, flieh zu deiner Gnade hin; dann leb ich aus deiner Kraft, die den neuen Menschen schafft.
Text: Michael Hahn 1758-1819
Weise: Liebe, die du mich zum Bilde, Darmstadt 1698
Erstveröffentlichung: Gäubote – Tageszeitung im Kreis Böblingen für Herrenberg und das Gäu, 26. 8. 2004.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Der Autor, Hans-Diether Frauer, ist Historiker und Publizist. Er lebt in Herrenberg und ist ein ausgewiesener Kenner der württembergischen Geschichte und Kirchengeschichte. Er hat mehrere Bücher verfasst und ist ein gefragter Vortragsredner.