Der prächtiger Fachwerkbau am Marktplatz wurde Ende des 16. Jahrhunderts erbaut
Das Böblinger Vogtshaus
Autorin: Susanne Kittelberger
Bis weit ins 19. Jahrhundert war die Fachwerkbauweise die vorherrschende Architekturform in unserer Region. Schmucke Sichtfachwerkfassaden prägen das Bild der historischen Ortszentren von Herrenberg, Leonberg, Sindelfingen oder Weil der Stadt. In Böblingen sind sie dagegen eine Seltenheit. Ein Bombenangriff verwandelte im Oktober 1943 fast die gesamte Altstadt in eine Trümmerlandschaft. Beim Wiederaufbau bediente man sich moderner Bauformen, die das Stadtbild bis heute prägen. Ein kleines Häuserensemble an der Nordseite des Marktplatzes vermittelt jedoch noch einen Rest Altstadtflair. Hier ragt das Gebäude mit der Nummer 27 heraus, das sogenannte „Vogtshaus“, das seit 1984 das Deutsche Fleischermuseum beherbergt.
Den Feuersturm im 2. Weltkrieg hatte das Haus mit viel Glück überlebt, doch 1979 wäre es an Weihnachten fast abgebrannt. Ein Großeinsatz der Böblinger Feuerwehr verhinderte Schlimmeres. Lediglich das Dachgeschoss wurde zerstört. Beim Löschen entstand allerdings ein beträchtlicher Wasserschaden. Durch die eindringende Feuchtigkeit lösten sich in den darunter liegenden Geschossen die oberen Putzschichten und gaben fast beiläufig den Blick auf farbig gefasste Holzbalken und bemalte Wände frei. Der Brand hatte sich, so gesehen, als Glücksfall erwiesen.
Bei der anschließenden Untersuchung durch Experten des Denkmalamtes wurde schnell klar, dass unter der unscheinbaren grauen Putzfassade des durch viele Umbauten entstellten Gebäudes ein Schmuckstück verborgen war. Konstruktive Details und das freigelegte Zierfachwerks in Stilformen der Renaissance ließen auf eine Erbauung im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts schließen. Vor allem im Inneren waren Reste der einstigen Ausmalung noch deutlich ablesbar. Auch in der Presse trafen die Entdeckungen auf großes Interesse und schon bald wurde das Gebäude mit dem bekannten Hornmoldhaus in Bietigheim verglichen, einem der prächtigsten erhaltenen Bürgerhäuser der Renaissance in Süddeutschland. 1981 wurde das Haus in die Denkmalliste des Landes Baden-Württemberg eingetragen und bereits im Dezember desselben Jahres stimmte der Böblinger Gemeinderat einer aufwendigen Renovierung des Gebäudes zu, deren Kosten auf 2,7 Mio. DM veranschlagt wurden.
Dies war freilich nicht immer so. Seit 1968 befand sich das Haus, dessen letzter Besitzer, Julius Supper, hier ein Geschäft für Damen und Herrenwäsche, sowie Strick- und Handarbeitswaren betrieb, im Besitz der Stadt. Damals trug man sich mit dem Gedanken, auch die letzten Fachwerkhäuser am Marktplatz abzureißen. Kein Einzelfall in unserer Region. Auch in der Nachbarstadt Sindelfingen plante man zu dieser Zeit, einen Großteil der Altstadt völlig neu zu bebauen.
Schmuckes Fachwerkensemble am Böblinger Marktplatz. Vogtshaus mit dreigeschossigem Erker, rechts daneben die ehemalige Stadtschreiberei.
Mit der Entscheidung, das Gebäude als Sichtfachwerk wiederherzustellen, so wie es Ende des 16. Jahrhunderts kurz nach seiner Erbauung ausgesehen haben könnte, waren aufwendige Umbaumaßnahmen verbunden, die sich über viele Jahre hinzogen und interessante Einblicke in die Geschichte des Gebäudes ergaben. So stellte der mit Planung beauftragte Böblinger Architekt, Claus Weisbach, bald nach Beginn der Renovierungsarbeiten fest, dass das Gebäude Ende des 16. Jahrhunderts gar nicht komplett neu erbaut wurde. Lediglich die beiden Obergeschosse und das Dach wurden damals neu aufgesetzt. Das Erdgeschoss war deutlich älteren Datums. Auch das gesamte Fachwerkgefüge des Baus war im Zuge von Umbaumaßnahmen im frühen 18. Jahrhundert stark verändert worden war. Anfang des 19. Jahrhunderts waren auch die gesamten Fensteröffnungen der oberen Geschosse neu aufgeteilt worden. Dies hatte zur Folge, dass die originale Fachwerkkonstruktion erst wieder mühsam rekonstruiert werden musste.
Bei der farblichen Gestaltung der Außenfassade orientierte man sich schließlich an dem ältesten Farbbefund der Holzbalken, einem kräftigen Rotton. Seit einigen Jahren ist die rote Farbe an der Marktplatzfassade durch die Einwirkung der Sonnenstrahlung stark verblichen und hat sich in ein dezentes Graugrün verwandelt. Lediglich die Seitenwände zeigen noch die originale Farbigkeit. Sichtfachwerkbauten bedürfen ständiger Wartung und Pflege. Das musste man in Böblingen schon einmal feststellen. Vier Jahre nach Ende der Restaurierungsmaßnahmen blätterte bereits 1990 Putz und Farbe von den Eichenbalken ab. Vermutlich war das verwendete Holz nicht lange genug abgelagert worden.
Eine Herausforderung für die Restauratoren war auch die Wiederherstellung der Wandmalereien im Inneren des Gebäudes. Insgesamt war es gelungen, fünf verschiedene Bemalungsstufen freizulegen. So sind die aufwendig gestalteten Türrahmen mit gemalter Scheinarchitektur und Delphinen, floralen Mustern und Marmorierungen typisch für die dekorative Innenausstattung der Renaissancezeit. Daneben fand sich aber auch eine Graufassung des 18. Jahrhunderts, während die blaue Innenbemalung aus dem 19. Jahrhundert stammt. Wer das Gebäude heute betritt, staunt über die Farbenpracht, die die Räumlichkeiten ausstrahlen. So ist das Gebäude mittlerweile auch wieder ein beredtes Zeugnis für die Wohnkultur früherer Zeiten und das Repräsentationsbedürfnis seiner ehemaligen Bewohner.
Die Größe des Gebäudes mit seinem über drei Geschosse geführte Standerker, die prächtige Innenausstattung und der prominente Standort mitten im Herzen der Stadt – in unmittelbarer Nähe von Rathaus, Amtshaus, Schloss und Kirche – machen klar, dass es sich hier um kein gewöhnliches Haus gehandelt haben konnte. Doch wer hatte damals in Böblingen soviel Geld und Einfluss, ein solch aufwendig gestaltetes Haus in Auftrag zu geben?
Der ehemalige Böblinger Stadtarchivar Hans-Jürgen Sostmann hat sich bisher am intensivsten mit der Geschichte des Gebäudes auseinandergesetzt. Im Laufe der Zeit wechselte das Anwesen immer wieder seine Besitzer. Er konnte allerdings auch in Erfahrung bringen, dass es vom 15. bis zum frühen 18. Jahrhundert überwiegend Vögte waren, die das Haus, beziehungsweise den Vorgängerbau am Marktplatz, bewohnten. Vögte waren ranghohe Landesbeamte, die in einer Amtsstadt wie Böblingen die Interessen der Landesherrschaft vertraten.
Zwischen 1454 und 1475 gehörte das Haus dem Vogt Hans Keppeler, ab 1495 war Vogt Erhart Jäger als Besitzer eingetragen, 1578 ist noch Werner Ströling dokumentiert, der sein Amt bereits 1563 angetreten hatte und 1577 abgesetzt wurde. Ob das Gebäude weiterhin im Besitz der Familie Ströling blieb oder ob es von seinem Nachfolger Matthias Stocker übernommen wurde, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Die dendrochronologische Untersuchung der Holzbalken ergab, dass das jetzige Gebäude um 1590 erbaut wurde. Dies fällt in die Amtszeit des Vogtes Kaspar Rösch. War er der Erbauer? Soestmann vermutet, dass auch die damalige Landesherrschaft das alte Gebäude aufgekauft haben könnte, um es als repräsentativen Amtssitz für seine Vögte ausbauen zu lassen. Leider konnte diese Frage bis heute nicht geklärt werden.
Seinem Rang als bedeutendes Kulturdenkmal der Renaissance in Südwestdeutschland tut dies allerdings keinen Abbruch. Bis heute kündet das Gebäude vom Lebensgefühl und vom Repräsentationswillen des Großbürgertums in einer württembergischen Amtsstadt im ausgehenden 16. Jahrhundert. Auch wenn es in seiner Bedeutung und der Qualität seiner Wandmalereien nicht ganz an das prächtige Hornmoldhaus in Bietigheim heranreicht, so ist es in unserem Landkreis doch einzigartig.
Gemalter Türrahmen im Böblinger Vogtshaus mit typischem Dekor der Renaissancezeit um 1600. (Bild: Susanne Schmidt)
Mit herzlichem Dank an Hans-Jürgen Soestmann, dessen Aufzeichnungen dem Artikel im Wesentlichen zu Grunde liegen.