Aspekte zur Geschichte Rohraus im 19. Jahrhundert
Von Bauern, Gipsmüllern und Sandhändlern
Autorin: Regine Zennß M.A.
Johannes Gößlers 1799 erbaute Gipsmühle bleibt bis zum Jahre 1813 die einzige in Rohrau. Seither bestehen zwei Mühlen. … Graben die beiden Gipsmüller Gößler und Adam Kienzle anfänglich auf eigenem Grund, so erreichen sie später Gipsvorkommen auf Fleckenallmand1. Zu diesem Zeitpunkt wird die Gipsmüllerei, später folgt das Sandgraben, ein Diskussionspunkt im Rohrauer Gemeinderat. Die beiden kaufen, bzw. pachten 1825 gemeinsam einen Platz zum „Ipßbrechen“… . 1829 beschließt der Gemeinderat, den Sandbauern einen jährlichen Pachtzins von 15 Kreuzern2 aufzuerlegen. …In Rohrau wird Sand und Gips gebrochen, jedoch zu Beginn von je schichtspezifisch anderen Personenkreisen. Die Gipsgewinnung wird offensichtlich als ein verhältnismäßig lohnendes Nebengewerbe betrachtet und dagegen mit 50 Gulden3 Pachtgeld belegt.
1837 kommt in Rohrau noch eine dritte Mühle hinzu. Sie ist die heute heute noch bestehende Gips- und Sandmühle . … Stefan Süßer, der sowohl Landwirtschaft, Holzhandel und die Gipsmüllerei betreibt, ist der dörflichen Mittelschicht zuzurechnen. Auch in Rohrau wächst angesichts der Situation der württembergischen Landwirtschaft die Tendenz, den Lebensunterhalt aus verschiedenen Quellen speisen zu müssen. …
Bei der steigenden Zahl der Gips-/Sandabbau betreibenden Dorfbewohner bleiben ernste Probleme nicht aus, zumal, weil auf verbotenem Platz Sand gebrochen wurde. …Als 1837 eine frisch angelegte Forchenkultur4 in Gefahr gerät, verfügt der Gemeinderat, wildes Graben mit einem Gulden Strafe zu belegen. …Die Versorgungssituation Rohraus verschlechtert sich zu Beginn der 40er Jahre drastisch. Im August 1842 bittet der Gemeinderat in einer Eingabe an das Oberamt „untertänigst im Namen der Gemeinde um Nachlaß an unserer Zehntpacht“. … Angesichts dieser Lage ist das vermehrte Zurückgreifen auf die Steinbrüche verständlich. Da wird gegraben ohne „Gebot noch Strafe zu erachten“. 1844 schließlich spricht der Gemeinderat ein Machtwort: Das Sandbrechen wird allgemein „bei Strafe von 3 Gulden“ verboten. Jeder Bürger hatte aber das Recht „seinen Bedarf von Streu- und Mauersand auf dem vom Gemeinderat ausgesteckten Platz zu holen“. Doch die Dorfbewohner setzten sich auch über dieses Verbot hinweg. 1848 ertappt der Feldschütz Konrad Renz 11 heimliche Sandbrecher. Auch Kinder sind darunter. …Gestraft werden auch Gras- und Holzdiebstähle und das unerlaubte Betteln.
Können sich die Ärmsten schon seit geraumer Zeit nicht mehr selbst ernähren, …, kommt der Gemeinderat angesichts steigender Lebensmittelpreise nicht umhin, auch denjenigen Unterstützung zu gewähren, „die gerade nicht ganz zu den ganz Armen gehören, aber gegenwärtig sich nicht mehr zu helfen wissen“. 1848 wurde versucht, durch Armenbeschäftigung, wie Werkspinnen, durch Ausstellung von Lebensmitteln oder 1853 durch Einrichtung einer örtlichen Suppenanstalt Abhilfe zu schaffen.
Auswanderungen bringen kurzfristig Erleichterung für die Rohrauer Armenkasse. In den 1850er Jahren verlassen 59 Personen den Ort, 53 davon wandern nach Amerika aus. …
Der letzte Sandbauer, Wilhelm Holzapfel, prüft das Produkt seiner Arbeit (Foto: Kreisarchiv/Landratsamt)
Im Jahre 1840 hat Rohrau 503 Einwohner, die in 52 Häusern zusammen wohnen. Im schlimmsten Fall sind es 20 Personen in einem Gebäude, durchschnittlich bis zu 10 Bewohner. …
Die schwerwiegenden Folgen der Agrarkrise, – Unterversorgung, Arbeitslosigkeit, hohe Lebensmittelpreise und sinkende Reallöhne – brachten allgemein für die Lohnabhängigen und die kleinbäuerliche Landwirtschaft eine völlige Verarmung mit sich.
Im Jahre 1855 hat sich die Schichtstruktur so verlagert, dass rund 77% der Steuerpflichtigen zur Unterschicht, 18% zur Mittelschicht und 5% zu Oberschicht gehören. Rund 413 von 537 Einwohnern leiden an „notorischer Armut“, wie es im Steuerbuch heißt. 1815 gehörten dagegen noch rund 32% der Mittelschicht an. Diskrepanzen und Armut prägen das Rohrauer Dorfleben.
Gravierende Ernteausfälle bei den „Erdbiren“ – seit 1845 grasiert in Württemberg die Kartoffelkrankheit – und schlechte Getreideernten führen nun auch zu ersten „Gantfällen“5. Jakob Hahrer, seit 1832 Gips- und Sandmüller, ist einer von ihnen. …Wie die Familie Hahrer werden 1855 in Rohrau 18 Steuerpflichtige und ihre Familien völlig mittellos. Wer wenig Boden sein eigen nennt und nur mit seinem Handwerk als Schuhmacher, Schneider, Tuchmacher, Weber oder mittels Gipsmüllerei und Sandbrechen versucht, über die Runden zu kommen, fällt spätestens nun der Armenkasse zur Last. …
Dies scheint auch keine Zeit zum Heiraten zu sein. Die Zahl der unverheirateten Frauen steigt stark an. Wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen, ist nicht eindeutig festzustellen. …Selbst als Sandbrecherinnen kann man ihnen begegnen. Fest steht, sie sind fast durchweg der untersten Einkommensschicht zuzurechnen. …
Sandbrechen und Sandverkauf bleiben nach Aufheben des allgemeinen Verbots im Jahre 1852 für die Rohrauer Unterschicht mit die wichtigste Einnahmequelle. 1856 wird der Allmandplatz an den Weinbergen jedoch wieder verpachtet. Der Gemeinderat ist der einlaufenden Beschwerden über die Streitigkeiten bezüglich des Sandbrechens überdrüssig. …
Obwohl die Landwirtschaft nun intensiver betrieben wird, reicht der Ertrag der kleinen Parzellen kaum aus, eine Familie zu ernähren. Im Jahr 1870 ist die Zahl der agrar-gewerblichen Mischeinkommen auf 45% angestiegen. Zwar zeigt sich gegenüber 1855 eine leichte Verbesserung, doch hat sich die Tendenz zur weiteren Verarmung im Vergleich zum Jahrhundertbeginn fortgesetzt. Eine Ausnahme machen hier die beiden Gipsmühlenbesitzer. Sie haben die Krisenjahre offensichtlich gut überstanden und finden sich nun in der dörflichen Oberschicht wieder.
Im Jahre 1867 entschließen sich drei Rohrauer aus der dörflichen Unterschicht eine Gipsmühle zu bauen: Gabriel Gößler, sowie Jakob Dieterle gemeinsam mit Friedrich Bitzer. Dieses Gewerbe soll nun den Lebensunterhalt aus der Landwirtschaft stützen. …
1870 befinden sich also vier Mühlen am Ort. Längst nicht alle Gips- und Sandbauern nennen aber eine Mühle ihr eigen. Fest steht, dass die Anzahl der Personen, die mit Gips- und Sandbrechen zu tun haben, vor allem in den 1880er Jahren ausdrücklich zunimmt. …1882, 1884 und 1886 werden drei weiter Mahlsteine aufgestellt. …
Bei der Gipsaufbereitung kommen nun auch neue Verfahren zum Einsatz. In der Landwirtschaft halten Maschinen Einzug. 1899 wird noch ein Sandmühlstein von Johann Michael Wörner, Bauer und Sandfuhrmann, neu aufgestellt. Es handelt sich um die nachweisbar letzte Einrichtung einer Steinmühle in Rohrau – genau 100 Jahre nachdem erstmals eine „Ipßmühle“ im Gebäudekataster Eingang gefunden hat.
Um 1900 – 69% der Rohrauer leben von geringstem Einkommen – kann davon ausgegangen werden, dass ca. 100 Personen rund um die Sand- und Gipsgewinnung leben. …Wie die Situation in der Gemeinde um 1910 aussieht, davon gibt der Pfarrbereicht eindrückliches Zeugnis: „Die armen Sandfuhrleute kommen jahraus, jahrein nicht in die Kirche, hausieren die ganze Woche mit Sand in der Umgegend, kommen am Samstag spät heim, um dann am Sonntagfrüh Haus und Stall in Ordnung zu bringen. Weil es an religiösem Interesse bei diesen ökonomisch schlecht gestellten Leuten fehlt, so sind jene häuslichen Verrichtungen eine willkommene Ausrede für das Fernbleiben vom Gottesdienst. Mädchen fehlen, weil sie in die Fabrik nach Herrenberg oder ins Nähen gehen. Söhne werden durch die Waldarbeit ferngehalten. … Das sittliche Leben leidet unter der Armut, Diebstähle und Waldfrevel kommen häufig vor.“ …
Auch der Gemeinderat hatte seine Mühe, die Gips- und Sandbauern in das Dorfleben zu integrieren. Adam Kienzle beispielsweise wird wegen Widersetzlichkeit und Ungehorsam als „Rebeller“ angezeigt. …Auch Frauen sind es, die sich gegen Verbote hinwegsetzen, um ihre Familien durchbringen zu können. …
Nach und nach findet das Dorf doch Anschluss an die Errungenschaften des industriellen Zeitalters. Bis zu den 1920er Jahren verliert der Gipsdünger durch die neuen Handelsdüngersorten allgemein an Bedeutung. Mit der sinkenden Nachfrage lohnt sich auch die Arbeit in den Sand- und Steinbrüchen nicht mehr. …In den 30er Jahren wurde der Sandverkauf zudem durch das weitgehende Verbot des Hausierhandels erschwert. …
Bis Anfang der 30er Jahre sind von neun bestehenden Steinmühlen die ersten vier verschwunden., bis 1958 die nächsten drei. Die noch von Wilhelm Holzapfel als letztem Sandbauern betriebene Mühle brennt um 1960 ab. Die Mühle des Stefan Süßer von 1837 blieb als einzige erhalten. Sie wurde 1969 von der Gemeinde Rohrau angekauft und dürfte eine der wenigen Zeitzeuginnen dieser Art sein.
(Detail) Auf dieser Karte von 1909 lassen sich fast alle je in Rohrau vorhanden gewesenen Mühlen einzeichnen. Nicht berücksichtigt sind die Gebäudenummern 98 und 12, sowie die Mühle am Waldrand (Gemeindearchiv Rohrau)
Erstveröffentlichung: „Von Bauern, Gipsmüllern und Sandhändlern – Aspekte zur Geschichte Rohraus im 19. Jahrhundert“, Gärtringen 1988
Der Text wurde gekürzt.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Gemeinde Gärtringen
Referenz
↑1 | Weide, Wald zur gemeinschaftlichen Nutzung der Dorfbewohner; Flecken: kleines Dorf |
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↑2 | Kreuzer: Silbermünze. Um 1830/1840 dürfte 1 Kreuzer, legt man einer groben Währungsumrechnung bestimmte Lebensmittelpreise zugrunde, etwa dem Gegenwert von 0,75 entsprochen haben |
↑3 | Nicht die aus Florenz stammende Goldmünze (fl), sondern der Reichs- oder rheinische Gulden, eine Silbermünze. Nach heutigem Wert (siehe Anm. 2) etwa 45 |
↑4 | Kiefernart |
↑5 | Zwangsversteigerung infolge von Zahlungsunfähigkeit |