Die Werbeagentur Witzgall im Schloss Dätzingen
Flotte Sprüche aus der Provinz
Erstveröffentlichung: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren. Röhm Verlag Sindelfingen 1999.
Was fällt uns zum Thema Blend-a-med ein?
Richtig: ein großer, grüner Apfel, vorzugsweise ein Granny Smith, und der Slogan „Damit Sie auch morgen noch kraftvoll zubeißen können“.
Den Spruch kennt wohl jeder. Den Mann, der ihn sich ausgedacht hat, kaum einer.
Constantin Witzgall war einer der gewieftesten Werber der sechziger Jahre. Geboren in Berlin, aufgewachsen in Tübingen, ausgebildet an der Hamburger Werbefachschule. 1952 gründete er zusammen mit seiner späteren Frau Marietta Groth eine Werbeagentur. Das Unternehmen wechselte mehrmals den Namen und den Standort, um sich schließlich sehr erfolgreich als Werbeagentur Witzgall in Stuttgart, direkt am Neckartor, anzusiedeln. „Zwei Zimmer für die Familie, drei für die Agentur“, erinnert sich Marietta Witzgall, „wie das eben so ist mit einer jungen Firma“.
Die junge Firma wuchs und gedieh, und Constantin Witzgall schaute sich in der näheren Umgebung nach einem repräsentativen Domizil um. Er fand es in Dätzingen, in einem halbverfallenen ehemaligen Wasserschlösschen mit romantisch verwildertem Garten. „Constantin war sofort verliebt,“ sagt Marietta Witzgall, „er hatte einen Faible für Schlösser und Burgen.“
Witzgall bekam das Gebäude von der Gemeinde verpachtet. „Zu einem sehr günstigen Preis, dafür mussten wir es selbst renovieren“, sagt Marietta Witzgall. Im September 1962 begannen die Renovierungsarbeiten, Witzgall engagierte alle Handwerker Dätzingens, um sich von vornherein gut mit den Einwohnern des 500-Seelen- Dorfes zu stellen. Die Gemeinde kümmerte sich um Dach- und Heizungssanierung, schon nach wenigen Monaten war das Haus bezugsfertig. Und mit der Werbeagentur Witzgall zog ein kosmopolites Klima nach „7031 Dätzingen über Böblingen“, wie die kleine Gemeinde postalisch hieß.
Die Agentur funktionierte als Mittler zwischen Wirtschaft auf der einen und Medien auf der anderen Seite. Die Kundenkarte war prominent gefüllt: 8×4, blend-a-med, Chocolat-Tobler, IBM, Beiersdorf, Nivea, Quelle, Porsche, WMF, Stuttgarter Hofbräu. Mit den wichtigsten Medienmachern wurde rege Korrespondenz geführt, darunter der spätere „Zeit“-Herausgeber Gerd Bucerius, Axel Springer, Chefredakteure der „Süddeutschen Zeitung“, des „Spiegel“, der „Welt“. „Die einen wollten, dass wir für sie werben, die anderen wollten Anzeigenseiten verkaufen“, sagt Marietta Witzgall.
Alle 2 Jahre wurde für alle Kunden ein rauschendes Fest gefeiert, mit Wegbeschreibung in der Einladung und immer unter einem bestimmten Motto: „Bal historique“, Trachtenfeier, Frühlingsfest. Im Schlosshof parkten Sportwagen einer Zuffenhausener Luxusmarke, im Garten wurde ein Pool aufgestellt für die Mittagspause, wer nicht schwimmen mochte, konnte sich beim Tischfußball entspannen. Constantin Witzgall war seiner Zeit weit voraus, schon 1963 herrschte in seiner Agentur ein kreatives Klima nach Firmenphilosophien.
„Wir wurden zuerst wie Zirkusleute bestaunt“, erinnert sich Marietta Witzgall, eine Hamburger Kaufmannstochter, schmunzelnd an die erste Zeit im Schwäbischen. In Dätzingen gewöhnte man sich an die neuen Mitbürger. Nachts nutzte die ortsansässige Jugend den kleinen Gartenpool, das Lebensmittelgeschäft erweiterte sein Sortiment um einige Delikatessen, mit dem wachsenden Erfolg der Werber wuchs die Zahl der neuen Arbeitsplätze. Die Integration funktionierte. Die meisten Mitarbeiter Witzgalls – in der Hochphase 1970 waren fast hundert Leute im Schloss beschäftigt – siedelten sich in Dätzingen oder Döffingen an, die Kinder gingen hier zur Schule.
Die Werbeagentur Constantin Witzgall gehörte zu den dreißig größten ihrer Art in Deutschland, die kreativsten Köpfe der Branche kamen gern nach Dätzingen, auch wegen des hohen Freizeitwerts. 1966 gründet Witzgall den der Firma angeschlossenen „Reit Club Schloss Dätzingen“ und eine Trakener-Zucht, alle Mitarbeiter bekamen kostenlosen Reitunterricht, die Fuchsjagden waren jedes Jahr ein großes Ereignis.
Constantin Witzgall starb 1974 an einem Gehirntumor und mit ihm die Agentur. „Eine kreative Firma kann nicht ohne Kopf überleben“, sagt Marietta Witzgall. Slogans wie „Stuttgarter Hofbräu – so ein Bier“ haben überlebt. Die Witwe, selbst Werbefachfrau, entschied sich, die Firma nicht weiterzuführen, sondern stattdessen für die drei Kinder da zu sein.
Sie wickelte Ende der Siebziger die Firma ab, musste mit dem Privatvermögen für Verträge einstehen. Bis Ende der achtziger Jahre führte sie in Dätzingen ein Geschäft für Reitsportbedarf, wie sie es schon zuvor getan hatte. Die Söhne sind wie ihr Vater in die Werbung gegangen. …
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung/Böblinger Zeitung