Die Sindelfinger NSDAP
Autoren: Schülerarbeitsgruppe am Goldberg-Gymnasium
Über Größe und Entwicklung der Sindelfinger NSDAP können wir nur mit einigen Vorbehalten Aussagen machen, weil die offizielle Mitgliederkartei “rechtzeitig“ vor dem Einmarsch der Franzosen vernichtet wurde. Wir nehmen an, dass sie zu den belastenden Materialien gehörte, die am 20. April 1945 in der Zentralheizung des Krankenhauses verbrannt wurden. Im Dezember 1945 wurde auf Anordnung von Bürgermeister Häring – offenbar im Zusammenhang mit der Entnazifizierung – eine neue, rekonstruierte Mitgliederliste erstellt; sie enthält Namen, Geburtsdatum, Adresse, Beruf, Eintrittsdatum und Parteiämter aller “Erfassten“, doch hat sie in zweierlei Hinsicht nur beschränkte Aussagekraft:
Da sie nachträglich erstellt wurde, besteht die Möglichkeit, dass ehemalige Parteimitglieder schlicht “vergessen“ wurden (das gilt v.a. für die über 400 Männer, die sich zu diesem Zeitpunkt noch in Kriegsgefangenschaft befanden).
In der Liste sind nur ehemalige Sindelfinger NSDAP-Mitglieder erfasst, die im Dezember 1945 Bürger Sindelfingens waren; nicht erfasst sind alle vorher verzogenen oder verstorbenen oder getöteten Personen (während des Krieges sind 495 Sindelfinger als Soldaten getötet worden, bei Bombenangriffen umgekommen oder waren vermisst).
Die tatsächliche Mitgliederzahl dürfte also 10-20 % über den Angaben der rekonstruierten Mitgliederliste gelegen haben. Aber auch wenn man diese Ungenauigkeit in Kauf nimmt, ergibt sich ein interessantes Bild von Stärke und Entwicklung der Sindelfinger NSDAP.
Die Sindelfinger NSDAP bestand aus zwei Ortsgruppen (“Goldberg“ und „Eichholz“) und hatte, dem absoluten Führerprinzip entsprechend, folgenden Organisationsaufbau:
Gauleiter Murr
| Kreisleiter Krohmer |
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Ortsgruppe Goldberg
(Ortsgruppenleiter Kohler) |
Ortsgruppe Eichholz
(Ortsgruppenleiter Kempf) |
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Zelle I Zelle II Zelle III Zelle IV
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Zelle I Zelle II Zelle III Zelle IV Zelle V
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5 Blöcke 5 Blöcke 5 Blöcke 5 Blöcke
(Ein Block umfasst 40 – 60 Haushalte) |
5 Blöcke 5 Blöcke 5 Blöcke 4 Blöcke 4 Blöcke
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Der rekonstruierten Mitgliederliste vom Dezember 1945 zufolge waren insgesamt 654 Bürgerinnen und Bürger Sindelfingens Mitglieder der NSDAP gewesen. Jeder neue Parteigenosse“ wurde vom Ortsgruppenleiter verpflichtet und musste in der Mitgliederversammlung vor der Hakenkreuzfahne den Eid ablegen. (…) Der früheste Parteieintritt war 1923 erfolgt (Kaufmann, Jahrgang 1896), der späteste am 28. Februar 1945 (17-jähriger Werkzeugmacher).
Aufschlussreich ist die Entwicklung der Mitgliederzahlen: Am Tage von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler (30. Januar 1933) hatte die Partei in Sindelfingen gerade 29 Mitglieder, bis zum Rest des Jahres kamen 120 weitere hinzu, und dabei war bereits am 1. Mai 1933 eine generelle Aufnahmesperre verhängt worden (die erst 1936 gelockert wurde). Es ist anzunehmen, dass ein großer Teil der „Neuen“ aus purem Opportunismus beitrat. (…)
Die soziale Zusammensetzung der Sindelfinger NSDAP liefert eine Erklärung für den enormen Mitgliederzuwachs im Verlauf des Jahres 1933. Die NSDAP war im gesamten Reich, entgegen ihrer Selbstbezeichnung, niemals eine Arbeiterpartei, und auch in Sindelfingen waren, wie die tabellarische Aufstellung der Berufsgruppen zeigt, “Geschäftswelt“, Angestellte, Akademiker und Beamte eindeutig überrepräsentiert.
Auffallend ist zunächst der ungewöhnlich hohe Anteil an Selbstständigen unter den Sindelfinger NSDAP-Mitgliedern: dass sie schon vor Hitlers Kanzlerschaft und erst recht während des Jahres 1933 die absolute Mehrheit der Mitglieder stellten, lässt sowohl auf die Anfälligkeit dieser Schicht für die NS-ldeologie als auch auf ein gehöriges Maß Opportunismus schließen. Demgegenüber ist der Anteil der Arbeiter an den Parteimitgliedern auffallend und zugleich aufschlussreich gering. (…) “Normal“ dagegen das Verhalten der Sindelfinger Beamten: Vor 1933 in vorsichtiger Distanz zur NSDAP, strömten sie nach Hitlers Kanzlerschaft in die neue Partei. Die meisten der 11 Lehrer und 4 Polizisten jedoch, die Parteimitglieder in Sindelfingen waren, sind das erst am 1. Mai 1937 geworden – entweder auf “sanften Druck“ hin oder weil ihnen im Mai 1933 der Aufnahmestopp zuvorgekommen war. Beim Gros der 9 Ärzte. Zahnärzte und Apotheker unter den NSDAP-Mitgliedern datiert der Eintritt entweder 1933 oder 1937. Ende 1937 war jedenfalls in Sindelfingen nahezu jeder, der “etwas war“ oder “etwas werden“ wollte, Mitglied der NSDAP.
Die NS-Frauenideologie schlägt sich auch in der Parteimitgliedschaft nieder: Lediglich 96 Frauen waren in Sindelfingen Parteimitglieder (14,6 % der Mitglieder insgesamt), wobei interessanterweise 67 von ihnen (69,9 %) erst nach 1939 der Partei beitraten – im gleichen Zeitraum traten nur noch 116 Männer in die Partei ein. Der Anteil der Frauen an den „Kriegsneuzugängen“ betrug also immerhin 36,6 %. Diese Entwicklung war sicherlich Folge der gestiegenen wirtschaftlichen Bedeutung der Frauen im Krieg und damit ihrer notwendigen Anerkennung auch im öffentlichen Leben: vielleicht wollten viele Frauen auch ihre eingezogenen Männer politisch vertreten. Auf jeden Fall hat während des Krieges eine „Emanzipation“ der Frauen stattgefunden, freilich in pervertierter Form.
Der Parteieintritt bedeutete übrigens nicht unbedingt eine unauflösliche Bindung. In Sindelfingen sind, den Angaben der rekonstruierten Mitgliederliste zufolge 12 “Parteigenossen“ bereits vor 1945 ausgetreten oder haben die Beitragszahlung eingestellt; einer von ihnen (Architekt) ist Mitte der 30er Jahre sogar aus Protest gegen das Berufsverbot eines Freundes aus der Partei ausgetreten. Zusätzlich zu den genannten Austritten gab es zwei Parteiausschlüsse, deren Ursachen uns unbekannt sind. (…)
Um die Bevölkerung total beeinflussen und kontrollieren zu können, verfügte auch die Sindelfinger NSDAP über eine kaum überschaubare Zahl von Nebenorganisationen. Am 9. April 1938, dem Vorabend der “Volksabstimmung“ über den “Anschluss“ Österreichs, zogen neben den beiden NSDAP-Ortsgruppen folgende Hilfsorganisationen durch die Stadt:
Schon die Zahl der Organisationen lässt keinen Zweifel daran: Auch in Sindelfingen war die Bevölkerung nahezu perfekt von der NSDAP erfasst und kontrolliert. (…)
Kurzer Überblick über die Geschichte der NSDAP von 1919-1933
Die NSDAP
Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei war am 5. Januar 1919 als „Deutsche Arbeiterpartei“ in München gegründet worden, aber erst nach dem Eintritt des berufslosen Weltkriegsgefreiten A. Hitler (September 1919) wurde sie zumindest in der lokalen Münchner Öffentlichkeit halbwegs bekannt. Im September 1920 benannte sie sich in „NSDAP“ um, am 29. Januar 1921 wurde Hitler ihr 1. Vorsitzender. Nach dem missglückten Putschversuch vom 9. November 1923 verboten, wurde die Partei am 27. Februar 1925 wieder ins Leben gerufen, kam jedoch zunächst über ein Sektendasein kaum hinaus: Bei den Reichstagswahlen 1928 erzielte sie gerade 3 % der Stimmen (hatte aber immerhin bereits an die 100.000 Mitglieder). Mit der Weltwirtschaftskrise, die seit Frühjahr 1930 auch in Deutschland spürbar wurde, wuchs ihr Einfluss: Bei den Reichstagswahlen im September 1930 erzielte sie 18 % der Stimmen, im Juli 1932, auf dem Höhepunkt der Krise, waren es 37 %. Damit hatte sie zunächst ihren Zenit überschritten. Bei den Novemberwahlen 1932 sank ihr Stimmanteil auf 33 %, und die Partei, die in der Zwischenzeit auf knapp 1,5 Millionen Mitglieder angewachsen war, wurde von schweren inneren Krisen geschüttelt. Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, vom Reichspräsidenten Hindenburg auf Betreiben einflussreicher Kreise aus Industrie. Großgrundbesitz und Militär vorgenommen, brachte die NSDAP an die Macht, als ihre Führer die Hoffnung beinahe schon aufgegeben hatten. … Bereits Mitte 1933 waren die Grundrechte aufgehoben, und die bürgerlichen Parteien hatten dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt, ehe sie selbst verboten wurden oder sich freiwillig auflösten. (… )
Aus: Krieg und Wiederaufbau in Sindelfingen 1939 – 1949, Sindelfingen 1985, S. 8.
Erstveröffentlichung: Krieg und Wiederaufbau in Sindelfingen 1939 - 1949, Sindelfingen 1985, S. 8-12.
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung von Michael Kuckenburg
Literaturhinweis:
Die Macht-Ergreifung in Sindelfingen 1933, Röhm-Verlag, Sindelfingen 1983.