Sindelfingen – eine demokratische Hochburg
Reichstagswahlen 1919 und 1920
Quelle: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren, Röhm Verlag, Sindelfingen 1999
Am 19. Januar 1919, nach verlorenem Krieg, Abdankung des Kaisers und Ausrufung der Republik, waren die Deutschen erstmals in ihrer Geschichte zu einer freien und demokratischen Wahl aufgerufen. Diese Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung fiel in eine politisch und wirtschaftlich ausgesprochen schwierige Umbruchzeit.
Trotzdem war das Interesse an den neu gewonnenen politischen Mitwirkungsmöglichkeiten groß. In Sindelfingen gingen mit 2721 von 3229 Wahlberechtigten fast 85 Prozent zu den Urnen. Dabei zeigte sich erneut, dass Sindelfingen eine Hochburg demokratischer Kräfte war. Mit 49,8 Prozent erhielten die Sozialdemokraten fast die Hälfte aller Stimmen (reichsweit 37,9 Prozent), die Deutsche Demokratische Partei (DDP) kam auf 33,7 Prozent (18,5 Prozent).
Damit hatte sich der ganz überwiegende Teil der Sindelfinger Bevölkerung für die sogenannten Weimarer Parteien ausgesprochen, die sich vorbehaltslos zur neuen republikanischen Staatsform bekannten. Daneben blieben die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) mit 8,3 Prozent und der konservative Bauern- und Weingärtnerbund mit 7,2 Prozent nur Randerscheinungen. Das katholische Zentrum hat im protestantischen Sindelfingen nie eine Rolle gespielt.
Mit der Einführung der Republik war die Einführung des Frauenwahlrechts einhergegangen. Aus heutiger Sicht mutet es fast rührend an, wie sich die Parteien um diese neue Zielgruppe bemühten. So heißt es in einer Anzeige der DDP in der Sindelfinger Zeitung, dass die Frau (…) namentlich in den letzten viereinhalb Jahren des Kriegs ihren Platz mit solchen Ehren ausgefüllt habe, dass sie sich damit die Gleichberechtigung mit der Männerwelt im Staat vollauf verdient hat. … An die Männer richten wir die dringende Bitte. Haltet eure Frauen nicht ab, sondern redet ihnen zu und erscheint womöglich mit ihnen, damit sie den ersten Schritt in der politischen Betätigung mit einer gewissen Sicherheit und damit mit Lust und Liebe tun können!
Leider liegen uns über Wahlbeteiligung und Wahlverhalten der Sindelfinger Frauen keine Unterlagen vor. Waren die Weimarer Parteien noch die klaren Gewinner der Wahl von 1919 gewesen, so hatte sich das Bild bis zur Reichstagswahl im Juni 1920 auf Grund der äußerst schwierigen gesamtpolitischen und wirtschaftlichen Lage grundlegend verändert. Die SPD stürzte in Sindelfingen auf 21,1 Prozent ab und wurde damit das einzige Mal während der Weimarer Republik nicht stärkste Partei. Knapp vor ihr lag die DDP mit 22,6 Prozent und auch noch die USPD mit 21,5 Prozent. Daneben konnte die neu entstandene Kommunistische Partei (KPD) mit 10,3 Prozent eine beachtliche Wählerzahl aus dem linken Lager an sich ziehen. Bereits im April 1919 spiegelt ein Zeitungsbericht über eine Versammlung der Sindelfinger Sozialdemokraten die Enttäuschung wider, die wohl viele SPD-Wähler 1920 zu den radikalen Linksparteien abwandern ließ: Die Ausführungen sämtlicher Redner gipfelten in Ausdrücken starken Unmuts (…) Wir vermissen den bestimmten Ton von Seiten unserer Genossen in der Regierung, die unzweideutige Erklärung, an prinzipiellen Forderungen nicht abhandeln zu lassen. So ist die Wahl von 1920 nicht nur in Sindelfingen als ausgesprochene Protestwahl anzusehen und sie verweist bereits ein Stück weit auf die Gefährdung der jungen Demokratie durch radikale Kräfte.
Während die Sindelfinger bei überregionalen Wahlen überwiegend sozialdemokratisch wählten, war in der Kommunalpolitik lange Zeit die DDP die führende Kraft. Was die Politik vor Ort anbetraf, hielt sich die Mehrheit lieber an das bürgerliche Lager, zumal auf der Liste der DDP viele bekannte Handwerker und Honoratioren kandidierten. Bei der ersten Wahl nach dem Krieg im Mai 1919 gewann die DDP zehn Sitze, die SPD fünf und die USPD drei Sitze.
Während 76 Prozent der männlichen Wahlberechtigten zu den Urnen gingen, machten nur 60 Prozent der Frauen von ihrem neuen Recht Gebrauch. Zwar hatten alle Parteien wenigstens eine Frau auf ihren Listen platziert, doch bis auf Rosa Leibfried, die für die USPD ein respektables Ergebnis erzielte, landeten alle Bewerberinnen auf den letzten Plätzen. Da hatte auch der unmittelbar vor der Wahl erschienene Aufruf in der Sindelfinger Zeitung nicht mehr gefruchtet: Insbesondere müssen die Frauen dafür sorgen, dass der neue Sindelfinger Gemeinderat im Gegensatz zu dem anderer Städte nicht dadurch auffällt, dass er frauenlos ist. Noch fast 50 Jahre sollte dieser Zustand anhalten. Aufgefallen ist der Sindelfinger Gemeinderat deswegen wohl kaum.
Die Grafik zu den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 und den Reichstagswahlen im Juni 1920 zeigt den rapiden Vertrauensverlust der Weimarer Parteien (SPD, DDP), die im Oberamt Böblingen innerhalb von 17 Monaten von insgesamt 74,85 Prozent auf 26,46 Prozent abrutschten. In den Städten Sindelfingen und noch mehr in Böblingen konnten die radikalen linken Parteien USPD und KPD dazugewinnen. In den ländlichen Gebieten legten vor allem die konservativen Parteien (Bürgerpartei, Bauern- und Weingärtnerbund) und die 1920 erstmals antretende DVP zu. Das Zentrum spielte im protestantischen Oberamt Böblingen kaum eine Rolle. Lediglich im katholischen Dätzingen erzielte das Zentrum 1919 über 66 Prozent, 1920 waren es nur noch 34 Prozent. Die Unzufriedenheit spiegelt sich auch in einer deutlich geringeren Wahlbeteiligung (70,5 statt 86,3 Prozent) und in der 1920 sehr hohen Zahl von ungültigen Stimmen (über fünf Prozent) wider. In den Oberämtern Herrenberg und Leonberg verlief die Entwicklung ähnlich. Im ländlichen Gäu war allerdings schon 1919 der Bauernbund die stärkste Partei gewesen.
Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung / Böblinger Zeitung
Die Grafik zu den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 und den Reichstagswahlen im Juni 1920 zeigt den rapiden Vertrauensverlust der Weimarer Parteien (SPD, DDP), die im Oberamt Böblingen innerhalb von 17 Monaten von insgesamt 74,85 Prozent auf 26,46 Prozent abrutschten. In den Städten Sindelfingen und noch mehr in Böblingen konnten die radikalen linken Parteien USPD und KPD dazugewinnen. In den ländlichen Gebieten legten vor allem die konservativen Parteien (Bürgerpartei, Bauern- und Weingärtnerbund) und die 1920 erstmals antretende DVP zu. Das Zentrum spielte im protestantischen Oberamt Böblingen kaum eine Rolle. Lediglich im katholischen Dätzingen erzielte das Zentrum 1919 über 66 Prozent, 1920 waren es nur noch 34 Prozent. Die Unzufriedenheit spiegelt sich auch in einer deutlich geringeren Wahlbeteiligung (70,5 statt 86,3 Prozent) und in der 1920 sehr hohen Zahl von ungültigen Stimmen (über fünf Prozent) wider. In den Oberämtern Herrenberg und Leonberg verlief die Entwicklung ähnlich. Im ländlichen Gäu war allerdings schon 1919 der Bauernbund die stärkste Partei gewesen.
Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung / Böblinger Zeitung
Ergebnisse der Reichtagswahlen 1919 und 1920 im Oberamt Böblingen im Vergleich. (Bild: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren, Röhm Verlag, Sindelfingen 1999)