Herrenberger Obervögtin war eine Radikalpietistin
Amalia Hedwig von Leiningen (1684-1756)
Autorin: Andrea Kittel
Am 4. März 1713 empfing Amalia Hedwig von Leiningen mit bangem Herzen eine ungewöhnliche Gruppe von Besuchern in ihrem Hause in der Probstei in Herrenberg. Bei der Frau des Obervogtes hatte sich eine vierköpfige herzogliche Commission zum Verhör angekündigt. Es waren der Hofprediger Andreas Adam Hochstetter, Oberrat Burkhart Bardili, der Professor der Theologie Johann Ulrich Fromman und als Protokollant der Sekretarius Pregitzer. Man verdächtigte die Obervögtin die Urheberin zweier aufrührerischer Schriften zu sein, die im Jahr zuvor anonym erschienen und in Württemberg unerlaubt verbreitet worden waren. Es waren theologische Schriften, deren Inhalt radikal von der lutherisch-orthodoxen Lehre abwich.1
Amalia Hedwig von Leiningen war schnell in den Kreis der Verdächtigen geraten. Die Obervögtin war in der Region eine bekannte Anhängerin des Pietismus und eine bekennende Separatistin: Man wusste von ihr, dass sie die Autorität der Amtskirche infrage stellte und sich nur einer Obrigkeit verpflichtet sah, nämlich der göttlichen.
Die Kommission war vom Herzog entsandt worden, um den religiösen Abspaltungstendenzen, die in Württemberg um sich griffen, gegenzusteuern. Calw und Herrenberg schienen dabei eine zentrale Rolle zu spielen.2
Der frühe Pietismus war eine religiöse Reformbewegung, die sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts zunehmend ausbreitete. Ein großer Teil der Anhänger dieser vielgestaltigen Bewegung verblieb innerhalb der Amtskirche. Aber es gab auch die frommen Radikalen, die sich unter Berufung auf den wahren Glauben gegen die kirchliche und weltliche Obrigkeit stellten. Den inkriminierten Schriften, die man in Herrenberg der Obervögtin vorlegte, maß man bei der Ausbreitung ketzerischer Ideen eine Schlüsselfunktion zu.
Als man Amalia von Leiningen damit konfrontierte, gab sie unumwunden zu, die Schriften verfasst zu haben – und sie war nicht bereit, die Inhalte zu widerrufen. Sie beharrte darauf, die Kirche sei „eine Hur, die Christo, ihrem Mann, untreu geworden“ sei. Die heiligen Sakramente gebrauche die Kirche nicht im Sinne Christi, denn ein wahrer Christ habe die äußerliche Taufe und das Abendmahl nicht nötig, sondern könne „inwendig in seiner Seele mit dem Wasser des Geistes täglich getauft werden“.3Gemäß ihrer Schriften verdammte sie die Priesterschaft, die in der Kirche für die kriegsführenden Fürsten Fürbitten abhielten und Siegesfeiern zelebrierten. Damit, so wetterte sie, unterstützten die Pfarrer die Mächtigen der Welt, die ihre Untertanen wie Kälber zur Schlachtbank führten, um des Geldes, der Lust, der Pracht und der Hoffart willen.4
Leiningens Hauptschrift mit dem Titel „Das große Geheimnis der Offenbarung Jesu Christi in uns“ war eine Auslegung der Johannesapokalypse. Das letzte Buch der Bibel war von Luther wegen seiner schwer zu entschlüsselnden Bildsprache aus dem Predigtkanon genommen worden. In pietistischen Zirkeln avancierte es gerade wegen seines spekulativen Charakters zu einer zentralen Schrift. Johannes erzählt darin in Traumbildern von den letzten Dingen: von der Wiederkunft des Herrn, vom Kampf gegen den Antichristen, von der Errichtung des Tausendjährigen Reichs, vom Ende aller Zeiten an dem Gott die Getreuen um sich versammelt. Wie ihre frommen Mitstreiter war Amalia von Leiningen überzeugt davon, in einer Endzeit zu leben und wartete auf die Wiederkunft des Herrn, so wie sie in den Evangelien und der Apokalypse prophezeit wurde.
Grabstein von Amalia Hedwig von Leiningen geb. Donop (1684-1756) auf dem Friedhof des Ihinger Hofs bei Renningen. (Foto: Klaus Philippscheck)
Wer war diese Frau? Und wie kam es, dass eine Dame aus dem ritterschaftlichen Adel, dazu die Gattin eines hohen herzoglichen Beamten, sich dieser unorthodoxen Bewegung anschloss?
Amalia Hedwig von Donop, verehelichte von Leiningen wurde 1684 zu Donop in Westfalen geboren. Ihr Vater gehörte der reformierten Kirche an. Er starb, als sie elf Jahre alt war. Die Mutter, eine geborene Bouwinghausen, war der lutherischen Religion zugetan. Sie schickte Amalia als dreizehnjährige für einige Wochen in das Haus eines lutherischen Predigers und Pietisten, der ihr religiösen Unterricht erteilte und sie auf das erste Abendmahl vorbereitete. Sehr viel mehr hatte Amalia an religiöser Bildung nicht mitbekommen. Als Kind schon schien sie eine gewisse Empfänglichkeit für religiöse Erlebnisse und Traumgesichter gehabt zu haben. Im Jahr 1702, als 18-jährige, heiratete sie Georg Siegfried von Leiningen. Die protestantische Familie von Leiningen stand in württembergischen Diensten, seit sie von Ferdinand II im Dreißigjährigen Krieg aus Kärnten vertrieben worden war.
Als Frau des Obervogts kam Amalia nach Herrenberg. Hier kam sie in Kontakt mit der religiösen Aufbruchsbewegung. Erste Impulse bekam sie möglicherweise durch die Begegnung mit dem Herrenberger Diaconus Sigmund Christian Gmelin, einem radikalen Pietisten, der schließlich 1707 wegen der Verbreitung „irriger Glaubenslehren“ des Landes verwiesen wurde. Er war es, der sie, nach eigener Einschätzung, ins „innere Christentum“ gewiesen hat. In ihrem selbst verfassten Lebenslauf, der einem ihrer Bücher vorangestellt ist, beschreibt sie auch, wie sich ihre „Erweckung zum wahren Glauben“ vollzog.5 Sie bekennt, ihren Mann geliebt zu haben. Mit ihm bekam sie auch einen Sohn. Doch den Ehestand im Allgemeinen, mit all den Pflichten, die eine große Haushaltung mit sich brachte, empfand sie als bitter und leidvoll. Um den Bedrängnissen des Alltags zu entfliehen, wandte sie sich zunehmend der Religion zu und fing an, ein „besseres Eheband mit Jesu Christo zu suchen“. Die „Welt- und Fleisches-Liebe“ sei ohnehin „mehr eine Lust-Seuche als Liebe zu nennen“. Sie schreibt weiter: „Christi Liebe war das Ziel meiner Lust-Begierde“, da diese „alle creatürliche Liebes-Annehmlichkeit weit übertrifft.“ Die Seelenliebe zu ihrem himmlischen Bräutigam beschreibt sie mit Sprachbildern wie sie schon bei den mittelalterlichen Mystikerinnen zu finden sind. In asketischer Weltflucht war ihr Sinn auf höheres, jenseitiges ausgerichtet. Ganze Tage verbrachte sie in Andacht und Gebet, hatte rauschartige Zustände, die sie zuweilen zu jeglicher Arbeit untüchtig machten. Sie erlebte Traumgesichte, Eingebungen und Visionen.
Die empfangende Seele, Emblematischer Holzschnitt, 1628. (Aus: Widerständig streitbar revolutionär. Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte und Alltagsgeschichte der letzten drei Jahrhunderte im Landkreis Böblingen, Böblingen 1999, S. 64)
Der Pietismus hatte von Anfang an auf Frauen eine starke Anziehungskraft. In dieser Laienbewegung war nicht die Autorität der Kirche gefragt, in der nur Männer das Wort ergreifen durften. In den Gemeinschaften wurde vielmehr die Gleichheit vor Gott gelebt. Männer wie Frauen vertrauten sich Gottes Führung an und hörten auf das „innere Wort“, mehr noch als auf die Heilige Schrift. Gerade die Betonung der persönlichen Gotteserfahrung und der Herzensfrömmigkeit bot Frauen die Möglichkeit, ihrem Glauben einen eigenen Ausdruck zu verleihen. In vielen Gemeinschaften des frühen Pietismus waren Frauen nicht nur Zuhörerinnen und stille Beterinnen. Sie prägten den Frömmigkeitsstil aktiv mit. Einzelne brachten als spirituelle Medien Dynamik in das Gruppengeschehen.
Auch Amalia Hedwig von Leiningen war eine solche Frau. Auch sie sah sich zum Sprachrohr Gottes berufen. Sie berichtet von sich selbst als einem „weiblich schwachen Werkzeug, in dem sich der Heilige Geist kräftig bezeuget“ habe.6Als sich in ihr die Erkenntnis der Offenbarung Jesu Christi durch visionäre Träume ausbreitete, wollte sie diese aufschreiben und in der Öffentlichkeit gedruckt verbreiten lassen. Als die Kommissionsherren sie fragten, wie sie dazu gekommen sei, ein ganzes Buch „von solchen hohen und wichtigen Dingen zu schreiben“, entgegnete sie, Jesus selbst habe sie dazu ermächtigt. Er sei ihr im Schlaf erschienen. Die Autorität auf die sie sich für ihr Schreiben beruft, kommt also von oben, von einer über der weltlichen und amtlich-geistlichen Instanz. In der Zeit, als sie ihre Erkenntnisse verfasste, habe sie ganz aufgehört Bücher zu lesen. Sogar die Bibel habe sie liegen lassen, nachdem sie im Traum eine Stimme gehört hatte, die rief: „Thue endlich das Buch weg!“7
Johann Albrecht Bengel, Erklärte Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi…, 1746 Titelblatt. In dieser Schrift berechnete der bedeutende pietistische Theologe die Wiederkunft Christi und das Jüngste Gericht auf den 18. Juni 1836. (Bild: Landeskirchliche Zentralbibliothek Stuttgart).
Was Amalia von Leiningen von anderen Visionärinnen unterscheidet, war der unbedingte Willen, ihre Erkenntnisse zu verschriftlichen. Für eine Frau in der damaligen Zeit ein ungeheurer Schritt. Was uns heute erstaunen mag, ist die Tatsache, dass sie kaum schreiben konnte. Offenbar wies die Bildung der Tochter von Stand erhebliche Lücken auf.
Zunächst brachte sie ihre Eingebungen zu Papier so gut sie konnte und diktierte sie anschließend dem Hauslehrer ihres Sohnes. In dieser Zeit hatte sie sich bereits den Herrenberger und Calwer Separatisten angeschlossen. Mitglieder der Calwer Zeug- und Tuchhandels-Compagnie hatten durch ihre Handelsbeziehungen auch ihren religiösen Horizont erweitert, so dass der Ort zu einem Zentrum des Separatismus geworden war. In Calw erhielt Frau von Leiningen denn auch weitere Unterstützung. Unter den frommen Compagnie-Mitgliedern fanden sich diejenigen, die ihr erstes Manuskript an der Zensur vorbei außer Landes – nach Idstein im Nassauischen – beförderten.
Um ihr Zweites Buch niederschreiben zu lassen, hielt sie sich eine ganze Woche lang im Haus des Calwer Separatistenführers Mose Dörtenbach auf. Der Obervogt hatte seiner Frau zwar den Umgang mit diesen Abtrünnigen verboten. Da sie aber eine so schlechte Schreiberin war, gab er nach und erlaubte ihr, ihr Werk dem Hauslehrer der Dörtenbachs in die Feder zu diktieren. Dieser Hauslehrer war übrigens der Bruder des Herrenberger Diaconus Gmelin, der sie einst mit Pietistischen Gedankengut in Berührung gebracht hatte. Mit Gmelin arbeitete sie Tag und Nacht an der Niederschrift. Für die Korrektur musste ihr der Gatte noch drei weitere Wochen in Calw genehmigen, bis das mehrere 100 Seiten starke Manuskript fertig war.
Die Propstei in Herrenberg – hier empfing am 4. März 1713 die Herrenberger Obervögtin Amalia Hedwig von Leiningen die herzogliche Untersuchungskommission. (Foto: Susanne Kittelberger)
Was war aus der Untersuchung der herzoglichen Commission geworden?
Ein ausführlicher Bericht der damaligen Untersuchung liegt heute im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart. Die Kommission stellt darin Amalia von Leiningen ein erstaunlich mildes Zeugnis aus: Sie sei eine „von Jugend an gottesfürchtige Frau“, die, um von ihrem Heiland nie mehr getrennt zu werden, auf den Weg der Separation gekommen sei. Daher müsse man sie lassen, bis Gott ihr die Augen öffne8. Amalia von Leiningen wurde danach nicht mehr aktenkundig. Ihre Bücher wurden deshalb keineswegs als harmlos angesehen. Noch einmal geraten sie ins Kreuzfeuer in einer Streitschrift aus dem Jahr 1715. Der Theologieprofessor und Kanzler der Universität Tübingen, Johann Wolfgang Jäger, geißelt darin alle dem Pietismus nahe stehenden separatistischen Bewegungen. Das „Herrenbergische Buch“, schreibt er, dieses „infame, giftgetränkte Werk“, das bereits in 500 Exemplaren im Land verbreitet sei, müsse „unter Strafe verboten und von Henkershänden vernichtet, den rächenden Flammen übergeben werden.“9
Nichts dergleichen geschah. Die Bücher fanden weiter Verbreitung und Amalia von Leiningen ging unbehelligt aus den Anfechtungen hervor. Ihr adeliger Stand mag sie vor Repressalien geschützt haben. Sie bekannte sich nach wie vor zum Separatismus und verfasste noch drei weitere Auslegungen der Johannesapokalypse. Als Mitschreiber für ihre letzten Bücher fungierte schließlich ihr Sohn Moritz Siegfried von Leiningen. Zusammen mit ihm verbrachte sie als Witwe ihre letzen Jahre auf dem Ihinger Hof bei Renningen, der später ein Hort für Glaubensflüchtlinge wurde. Dort starb sie 1756.
Der Kommissionsbericht von 1713 wird im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart unter der Signatur A26, 470, 2c aufbewahrt. (Foto: Landeskirchliches Archiv Stuttgart)
Erstveröffentlichung: Aus Schönbuch und Gäu. Beilage der Kreiszeitung Böblinger Bote, hrsg. vom Heimatgeschichtsverein aus Schönbuch und Gäu, 1.Heft 2012, S. 4-7.
Veröffentlichung in leicht gekürzter Form mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Die Autorin, Andrea Kittel, ist Mitarbeiterin des Landeskirchlichen Archivs Stuttgart und ist zuständig für Ausstellungen und die Museale Sammlung.
Hans-Dieter Frauer, Zufluchtsstätte für Radikalgläubige – Mötzingen war Hochburg des Separatismus
Helga Hager, „Scandalense Vergehung“ in der Nufringer Pfarrkirche. Die Radikalpietistin Anna Riethmüller und ihr separatistisches Umfeld im 18. Jahrhundert.
Hans-Dieter Frauer, Wegen seiner Überzeugung aus dem Lande gejagt – Radikalpietist Eipperle aus Gärtingen
Hans-Dieter Frauer, Pietismus im Gäu
Hans-Dieter Frauer, Franziska von Hohenheim (1748-1811) – Der „gute Engel des Landes“ war eine Pietistin
Klaus Philippscheck, Der Ihinger Hof und das Rätsel der Kanne – Grenzsteine erzählen Geschichte(n)
Referenz
↑1 | Mit Amalia Hedwig von Leiningen als Autorin geistlicher Schriften hat sich die Literaturwissenschaftlerin Gisela Schlientz beschäftigt. Ihr Beitrag im Begleitband zu einer Ausstellung, die ich leitete, hat den Impuls zum vorliegenden Vortrag gegeben, der in weiten Teilen ihren Ausführungen folgt. Siehe: Gisela Schlientz, Die Visionärin Amalia Hedwig von Leiningen (1684-1756), in: Weib und Seele. Frömmigkeit und Spiritualität evangelischer Frauen in Württemberg. Kataloge und Schriften des Landeskirchlichen Museums Band 8. Erschienen zur gleichnamigen Ausstellung. Ludwigsburg 1998, S. 81-87. |
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↑2 | Der Kommissionsbericht ist im Landeskirchlichen Archiv unter dem Titel „Relatio Commissionis Calvensis de Anno 1713, unter der Signatur A26, 470,2c aufbewahrt. |
↑3 | Relatio, S. 24ff. |
↑4 | Amalia Hedwig von Leiningen, Das Grosse Geheimnis der Offenbarung Jesu Christi in uns, Welches in aller Menschen Hertzen verborgen liegt, und wodurch sie alle werden gerichtet werden, laut des Evangelii: Eingesehen in dem Geiste Jesu Christi, und, so viel die Schwachheit des Fleisches und Buchstaben zugelassen, durch diese allgemeine Liebe, von Maria, durch den Dienst Johannes, allen Menschen dargelegt, wes Standes und Würde sie auch seyn mögen…, o. O. 1712, S. 193ff. |
↑5 | Amalia Hedwig von Leiningen, Lebens-Lauf, unpaginiert, in: Eine durch Gottes Gnade empfangene Erklärung der buchstäblichen Offenbarung Jesu Christi, Aus liebe zu Gott und Menschen, so viel geist- und leibliche Schwachheit zugelassen, zum Wegweiser mitgetheilt…Gegeben im Jahr Christi 1749. Durch A.H.V.G.V.D. / d. i. A.H. von Leiningen, geb. von Donop, Franckfurt & Leipzig 1757. |
↑6, ↑7 | Lebenslauf |
↑8 | Relatio, S.37 |
↑9 | Johann Wolfgang Jäger, Separatismus hodiernus sub examen vocatus…, Tübingen 1715, S. 34ff. |