Kayh in der Herrenberger Oberamtsbeschreibung von 1855
„… sie zeigen im Allgemeinen einen eisernen Fleiß, verbunden mit Sparsamkeit und viel religiösem Sinn“
Autor: Eduard Paulus
Kayh, Gemeinde III. Klasse mit 676 evang. Einwohnern. -Evang. Pfarrei, mit den Filialen Mönchberg und dem evang. Teil von Altingen.
Am Fuß des Grafenbergs (die Aussicht von dem Grafenberg gehört zu den reizendsten des Landes), der einen Vorsprung der Schönbuchsterrasse bildet, liegt eine Stunde südöstlich von der Oberamtsstadt, das in die Länge gebaute, meist aus kleinen Gebäuden bestehende Pfarrdorf, dessen reinlich gehaltene Ortsstraßen durchaus gekandelt sind. Die Lage des Orts ist eine sanft geneigte und gegen die Nord- und Ostwinde durch die Schönbuchterrasse geschützte, daher auch im Frühjahr die Vegetation früher ist als in den Gäuorten, das Obst aber durch die nicht selten sich einstellenden Frühlingsfröste öfters leidet. Hagelschlag ist selten, und nur wenn Gewitter von Osten her über den Schönbuch ziehen, richten dieselben in der Regel Schaden an.
An dem südlichen Ende des Dorfes steht die ansehnliche Pfarrkirche mit ihrem stark ummauerten, ehemals festen Begräbnisplatz, der nun, nachdem im Jahre 1832 ein neuer außerhalb des Orts angelegt wurde, als Baumschule benützt wird.
Sie wurde an der Stelle der früheren Kapelle im Jahr 1487 im germanischen1 Styl erbaut, der übrigens im Laufe der Zeit durch vorgenommene Veränderungen theilweise zerstört worden ist; (…) Der viereckige Thurm, welcher früher zur Verteidigung diente, und älter als die gegenwärtige Kirche ist, besteht aus zwei hohen, aus Stein gebauten Stockwerken, denen in neuerer Zeit ein drittes hölzernes aufgesetzt wurde, das ein hohes Zeltdach trägt. (…) Das Innere der Kirche ist hell, geräumig, flach getäfelt und mit schlecht bemalten Emporen versehen.2 (…) Die Kirche gehört der Stiftungspflege, welche sie auch im Bau zu unterhalten hat.
Das freundliche, getünchte und gut erhaltene Pfarrhaus, welches 1748 erbaut wurde, steht an der Hauptstraße unfern der Kirche und bildet mit seinen Oeconomiegebäuden, Hofraum, Garten etc. einen schön geschlossenen Pfarrsitz; es ist von der K. Hofdomänenkammer zu unterhalten.
Ein ansehnliches, gut erhaltenes Schulhaus enthält neben der Volksschule die Wohnungen der Lehrer; ganz in der Nähe desselben steht das alte, aus solidem Eichengebälke erbaute Rathhaus; (…) In dem unteren Stockwerk wurde im Jahr 1848 ein Gemeindebackhaus und die Kleinkinderschule eingerichtet; eine sehr besuchte Industrieschule besteht schon seit 10 Jahren. Beide verdanken ihre Entstehung dem früheren Pfarrer Freihofer. Die Zehntscheuer hat die Gemeinde im Jahre 1850 von der K. Hofdomänenkammer um 250 fl.3 erkauft; die in der Nähe des Rathhauses stehende Kelter4 wurde in neuerer Zeit in ein Schafhaus umgewandelt.
Ein großer Uebelstand für die Gemeinde ist der Mangel an gutem Trinkwasser, indem im Ort selbst nur ein 20 Klafter5 tiefer Zugbrunnen vorhanden ist, dessen Wasser zum Kochen nicht gebraucht werden kann und auch von den Pferden nicht gerne getrunken wird; da derselbe überdies bei anhaltend trockener Witterung versiegt, so wurde einige Schritte südwestlich vom Ort 1841 ein Brunnen erbohrt, der das ganze Jahr hindurch Wasser liefert, das übrigens ebenfalls gipshaltig – und zum Kochen unbrauchbar ist. Das Kochwasser, welches meist zur Hälfte mit dem im Ort vorkommenden gemischt wird, muß daher 1/4 Stunde nordöstlich vom Dorfe an der sog. Steige – zuweilen auch in Altingen geholt werden. Auf den Fall von Feuersgefahr sind zwei Wetten im Ort und außerhalb desselben angelegt, die übrigens bei heißer Witterung austrocknen und dann unangenehm ausdünsten; außer diesen haben mehrere Ortseinwohner zum Viehtränken Wasserbehälter angelegt, die sie mittelst der Dachtraufe füllen. (…)
Die Einwohner sind, vermuthlich in Folge des schlechten Wassers und des mühsam zu bebauenden Bodens, körperlich etwas unansehnlicher, als die Gäubewohner, wie denn bei denselben, neuerdings jedoch seltener, Spuren von Kretinismus6 hervortreten, andere Krankheiten jedoch weniger vorkommen. In sittlicher Beziehung stehen die Einwohner denen der Gäuorte nicht nach, sie zeigen im Allgemeinen einen eisernen Fleiß, verbunden mit Sparsamkeit und viel religiösem Sinn. Ihre Vermögensumstände gehören nicht zu den besten, die Mehrzahl ist unbemittelt. Der begütertste Bürger besitzt 30 Morgen7 Felder. Die Haupterwerbsquellen sind Feldbau mit etwas Viehzucht, und Obstbau, welcher in großer Ausdehnung betrieben wird.
Die Markung ist klein, und ihre Erzeugnisse würden nicht reichen, die ziemlich starke Bevölkerung zu ernähren, wenn nicht die Einwohner viele Güter auf den Markungen Altingen und Gültstein angekauft hätten. (…)
Die Landwirtschaft wird im Dreifeldersystem mit zu 1/10 eingebauter Brache so gut als möglich betrieben, und landwirtschaftliche Neuerungen, wie die Einführung des Flanderpflugs und die Anwendung der Walze haben Eingang gefunden; die Düngerstätten sind noch nach alter Weise angelegt, übrigens wird die Gewinnung und Benützung der Jauche immer häufiger. Außer dieser und dem gewöhnlichen Stalldünger bedient man sich zur Besserung des Bodens noch des Pferchs und des Gipses. Letzterer wird in mehreren Gruben auf der Markung selbst abgebaut und in sechs durch Pferde getriebenen Gipsmühlen gemahlen, um nicht nur das eigene Bedürfnis zu befriedigen, sondern hauptsächlich um Handel in die Umgegend damit zu treiben, was mehreren Familien ihr spärliches Auskommen sichert.8 …
Der Weinbau, welcher früher sehr ausgedehnt war, wird nur noch auf etwa sechs Morgen betrieben und liefert ein geringes Erzeugnis, das nur in ganz günstigen Jahren mittelmäßig wird. (…)
Um so bedeutender ist die Obstzucht, welche in großer Ausdehnung mit musterhaftem Fleiß getrieben wird. Nicht nur die Straßen und Wege, sondern auch die ehemaligen Weinberge und viele Aecker, wie auch die umliegenden Grasgärten sind mit Obstbäumen bepflanzt, so daß der Ort gleichsam in einen Obstwald versteckt liegt. … Das Obst wird theils gemostet, theils an Händler oder in die Schwarzwaldgegenden verkauft und bildet eine namhafte Erwerbsquelle. Das Misrathen desselben übt daher den nachtheiligsten Einfluß auf die ohnehin ziemlich unbemittelten Einwohner. (…)
Die Gewerbe dienen, mit Ausnahme der schon angeführten Gipsmühlen, nur den nöthigsten örtlichen Bedürfnissen, auch wird als Nebengewerbe Handspinnerei für den Hausbedarf betrieben. Im Ort befinden sich ein Krämer und drei Schildwirthschaften.
Bei geringem Kapitalvermögen und einiger Schuldenlast der Gemeindepflege sind jährlich etwa 800 fl. Gemeindeschaden umzulegen. Das Vermögen der Stiftungspflege beträgt etwa 5000 fl., worunter 700 fl. 30 kr. begriffen sind, deren jährliche Zinsen theils an Ortsarme ausgetheilt, theils zu Schulbüchern und Schulgeldern für unbemittelte Kinder verwendet werden.
Nördlich vom Ort am Saume des Waldes ist ein Stubensandsteinbruch angelegt, der theils der Gemeinde, theils Privaten gehört.
Bis zur Ablösung der Grundlasten bezog die K. Hofdomänenkammer den großen Zehenten; den kleinen Zehenten hatte die Pfarrei Altingen.
In kirchlicher Hinsicht war Kayh ursprünglich ein Filial von Altingen und besaß nur eine eigene, der Hl. Maria geweihte Kapelle und an derselben einen Kaplan, die Verstorbenen aber mußten bis 1443 nach Altingen beerdigt werden. Erst im Jahr 1487 wurde die Kaplanei zu einer Pfarrkirche erhoben. (…) Nach Einführung der Reformation wurden die evangelischen Einwohner von dem paritätischen9 Ort Altingen Filialisten von Kayh. (…)
Der Ort, alt geschrieben Gahai (im 12. Jahrhundert), Gihai (1289), Gehei, kommt im 12. Jahrhundert vor; sein Name ist ursprünglich ein Appelativ, welches gehegtes Holz, gehegte Wiese bedeutet. Er gehörte ursprünglich den Pfalzgrafen von Tübingen. (…) An Württemberg gelangte am 10. Febr. 1382 mit Herrenberg der Ort mit seinen Einkünften. (…)
Blick auf Kayh. (Foto: S.Kittelberger)
Quelle: Beschreibung des Oberamts Herrenberg. Herausgegeben von dem königlichen statistisch-topographischen Bureau, Stuttgart 1855
Der Text wurde gekürzt
Mit freundlicher Genehmigung des Bissinger-Verlags Magstadt
Die Württembergischen Oberamtsbeschreibungen
Im Jahre 1820 wurde auf Dekret des württembergischen Königs Wilhelm I das „königliche statistisch-topographische Bureau“ in Stuttgart gegründet. Zwischen 1824 und 1886 wurden dort genaue Beschreibungen aller 64 württembergischen Verwaltungsbezirke und ihrer Gemeinden erarbeitet. Als 34. Band erschien im Jahre 1855 die Beschreibung des Oberamts Herrenberg. Die Oberamtsbeschreibungen sind eine interessante und unverzichtbare Quelle zur württembergischen Landeskunde und werden als Reprint immer wieder aufgelegt.
Referenz
↑1 | “germanisch“ im damaligen Sprachgebrauch Synonym für „gotisch“ |
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↑2 | Der Autor meint vermutlich die aus dem Jahre 1699 stammenden Emporenbilder; 13 (von ehemals 26) hängen seit Abbruch der Emporen (1971) an den Wänden des Schiffs. |
↑3 | 1 Gulden (fl) = 60 Kreuzer (kr). Nach der Währungsumstellung entsprach 1 Gulden ca. 1,71 Mark. Legt man für eine grobe Währungsumrechnung bestimmte aktuelle Lebensmittelpreise zugrunde, dürfte ein Kreuzer etwa den Gegenwert von 0,80 € gehabt haben. Die Guldenwährung im süddeutschen Raum bestand von ca. 1550 – 1875. |
↑4 | Kayh hatte früher vier Keltern, von denen zwei der Kellerei, die anderen dem Kloster Bebenhausen gehörten. |
↑5 | 1 Klafter = 3,386 Raummeter |
↑6 | Durch einen Mangel an Schilddrüsenhormonen hervorgerufene, schwere körperliche und geistige Entwicklungsstörung (Zwergwuchs, Deformationen, ausgeprägter Schwachsinn). Heute in den Industrieländern ausgerottet, im 19. Jh. aber v.a. in den Jodmangelgebieten Süddeutschlands und der Schweiz auffällig stark verbreitet (endemischer Kretinismus). |
↑7 | 1 württ. Morgen = 31,52 Ar |
↑8 | Früher wurde auch Alabaster auf der Markung gebrochen. |
↑9 | Protestanten und Katholiken gleichgestellt |