Rutesheim in der Beschreibung des Leonberger Oberamts von 1852
“ … Wißbegierde und große Anhänglichkeit an das Altherkömmliche“
Autor: Karl Eduard Paulus
Rutesheim, Gemeinde II. Kl. mit 1193 Einw., wor. 7 Kath. – Ev. Pfarrei; Katholiken sind nach Weil der Stadt eingepfarrt.
Rutesheim liegt 5/4 Stunden westlich von der Oberamtsstadt, in einer etwas einförmigen Gegend ziemlich hoch (1558 württembergische Fuß über der Meeresfläche, mithin nur 175 Fuß tiefer als die Solitude). Vermöge dieser hohen, dem Zutritt der Winde sehr ausgesetzten Lage, ist die Luft rauh, übrigens gesund; die Nächte sind auch den Sommer über kühl und Frühlingsfröste nicht selten, dagegen kommt Hagelschlag, welcher in den nahe gelegenen Waldungen einen Ableiter findet, nur wenig vor. Die Ernte beginnt um 8-10 Tage später, als im östlichen Theile des Bezirks.
Der freundliche, ziemlich große, mit breiten, reinlichen Straßen versehene Ort, welcher früher mit Mauern umgeben war, gehört zu den schönsten des Bezirks; besonders zeichnet sich der neue Theil vorteilhaft aus, welcher nach dem Brandunglück von 1837 erbaut und regelmäßig angelegt wurde. Gutes Trinkwasser spenden 6 Brunnen, die übrigens in trockenen Sommern und in kalten Wintern öfters so sehr nachlassen, daß Mangel an Wasser entsteht. Neben einer Wette im Ort besteht außerhalb desselben, an der Straße nach Leonberg, ein vor ungefähr 30 Jahren angelegter Weiher; 1/4 Stunde westlich vom Ort befindet sich eine Schafwasche.
Die 1789 erbaute Pfarrkirche, deren Unterhaltung der Stiftungspflege zusteht, liegt etwas erhöht im westlichen Theile des Dorfs; sie hat sowohl in ihrem Aueßeren als Inneren, das übrigens freundlich und helle ist, nichts Bemerkenswertes. Der viereckige, nicht hohe, mit einem Zeltdach versehene Thurm ist sehr alt, aber durch spätere Veränderungen seines ursprünglichen Styls beraubt; … Beinahe in der Mitte des Dorfs steht das 1769 erbaute, gut erhaltene Pfarrhaus, dessen Unterhaltung dem Staate obliegt. Das in der Nähe der Kirche gelegene, geräumige Schulhaus mit Lehrerwohnung wurde 1823 neu erbaut und befindet sich in gutem baulichen Zustande. Das Rathaus ist 1838 in einem freundlichen, modernen Styl neu erbaut worden, nachdem das alte sammt den Documenten bei dem schon gedachten Brande ein Raub der Flammen geworden war.
Die körperlich gut gebauten, kräftigen Einwohner, welche nicht selten ein hohes Alter erreichen, sind fleißig, einfach, sparsam und kirchlich gesinnt, mehrere jedoch der Swedenborgischen1 Lehre zugethan. Als besonderer Charakterzug der Rutesheimer wird Wißbegierde und große Anhänglichkeit an das Altherkömmliche bezeichnet, welche Neuerungen wenig Eingang gestatte. Ihre Vermögensumstände gehören im Allgemeinen zu den besseren, doch sind Manche in Folge des Brandes durch kostbares Bauen in ihren ökonomischen Verhältnissen etwas zurückgekommen. Außer den Haupterwerbsquellen, in Feldbau und Viehzucht bestehend, finden manchen Einwohner auch Verdienst durch Straßen- und Waldarbeiten. (…)
Im Allgemeinen kann der Boden … ziemlich fruchtbar genannt werden. Die gewöhnlichen Cerealien und Obstsorten gedeihen gut, auch Bohnen und Gurken kommen noch fort; früher wurde sogar Weinbau getrieben, was die nördlich vom Ort vorkommenden Flurbenennungen „wüste Weingärten und unter der Wengerthalde“ nachweisen.
Die Landwirtschaft ist verhältnismäßig noch etwas zurück. (…) Im Dreifeldersystem baut man die gewöhnlichen Getreidearten und in der mäßig benützten Brache Kartoffeln, Futterkräuter, Angersen und etwas Hanf; letzterer wird überdieß noch in besonderen Ländern in großer Ausdehnung gezogen. (…) Von den Gewerben ist das der Weber ziemlich stark vertreten, von denen auch ein Bildweber nach Außen arbeitet; die übrigen Handwerker dienen nur den örtlichen Bedürfnissen. Im Ort befinden sich 6 Schildwirthschaften, ein Kaufmann und ein Krämer.
Neben der Volksschule mit einem Lehrer und einem Unterlehrer besteht eine Industrieschule, welche die Frau und die Tochter des dermaligen Pfarrers Breitschwerdt leiten; auch ist ein Armenhaus für zwei Familien, sowie ein Gemeinde-Back- und Waschhaus vorhanden. (…)
Die Gemeindepflege und die Stiftungspflege sind bemittelt; Gemeindeschaden wird nicht umgelegt (…). Besonders sind eine Schulstiftung von 20 fl.,2 deren Zinse zu Büchern für unbemittelte Kinder verwendet werden, und einige Brodstiftungen für Ortsarme vorhanden. (…)
Rutesheim, oder wie der Ort vor nicht langer Zeit auch geschrieben wurde, Rutemsheim, wird erstmals genannt, als villa Rothmaresheim in pago Enzingowe (Enzgau) im Jahr 767; damals beschenkte hier ein gewisser Hildemar das Kloster Lorsch an der Bergstraße. (…) Die frühesten urkundlichen Besitzer des Dorfs sind die Pfalzgrafen von Tübingen, an welche es von den Grafen von Calw gekommen seyn mochte. Am 16. Mai 1302 verkaufte Graf Rudolph von Tübingen, genannt der Scherer, das Dorf mit allen Zugehörungen um 700 Pfund Heller an Graf Eberhard von Württemberg. (…) Der hiesige Ortsadel ist bloß aus den Auszügen, welcher der Hirschauer Codex aus Urkunden des 12. Jahrhunderts gibt, bekannt; (…)
Im Jahr 1837, Juni 30, wurde das Dorf durch ein großes Brandunglück heimgesucht; in 3 – 4 Stunden lagen in Asche: das Rathaus, 47 besonders stehende Wohngebäude, 20 Wohngebäude mit angebauten Scheunen, 41 besonders stehende Scheunen, 85 Wagenschoppen, Waschhäuser, Schweinställe. Eingerissen wurden 4 Wohngebäude und 1 Wagen- und Holzremise.
Blick auf Rutesheim. (Bild: qwesy qwesy, Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY 3.0.)
Quelle: Beschreibung des Oberamts Leonberg. Herausgegeben von dem königlichen statistisch-topographischen Bureau, Stuttgart, J. B. Müller’s Verlagshandlung, 1852.
Der Text wurde gekürzt
Die Württembergischen Oberamtsbeschreibungen
Im Jahre 1820 wurde auf Dekret König Wilhelms I das königliche statistisch-topographische Bureau in Stuttgart gegründet. Zwischen 1824 und 1886 entstanden dort Beschreibungen aller 64 württembergischen Verwaltungsbezirke und ihrer Gemeinden. Als 30. Band erschien 1852 die Beschreibung des Oberamts Leonberg. Auf dem Internet-Portal Wikisource kann diese bereits vollständig abgerufen werden. Hier finden Sie auch eine ungekürzte Version der Beschreibung von Rutesheim.
Referenz
↑1 | Emanuel v. Swedenborg (1688-1772), schwed. Naturforscher und Theosoph. |
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↑2 | 1 Gulden (fl) = 60 Kreuzer (kr). Nach der Währungsumstellung entsprach 1 Gulden ca. 1,71 Mark. Legt man für eine grobe Währungsumrechnung bestimmte aktuelle Lebensmittelpreise zugrunde, dürfte ein Kreuzer etwa den Gegenwert von 0,80 gehabt haben. Die Guldenwährung im süddeutschen Raum bestand von ca. 1550 – 1875. |