Luftangriffe auf Sindelfingen im Zweiten Weltkrieg
Bomben auf die Daimlerstadt
Autoren: Schülerarbeitsgruppe am Goldberg-Gymnasium Sindelfingen
Dicht bei Sindelfingen, in der heutigen Wildermuthkaserne befand sich während des Krieges die Böblinger Garnison; Daimler-Benz war einer der wichtigsten Rüstungsbetriebe in Südwestdeutschland; direkt an ihn grenzte der Kriegsflughafen zwischen Böblingen und Sindelfingen, und der Scheinflughafen, der zu dessen Schutz zwischen Sindelfingen, Maichingen und Darmsheim angelegt worden war, gefährdete andererseits die drei Gemeinden. Bürgermeister Pfitzer hatte also schon recht, als er im Herbst 1943 auf die besonders gefährdete Lage der Stadt hinwies. …
Zwischen dem 26. August 1941 und dem 23. März 1945 war Sindelfingen 14 Bombenangriffen ausgesetzt, wobei die ersten die Markung Sindelfingen nur “streiften“ (ihr Ziel war Stuttgart). Mit der Erringung der alliierten Luftüberlegenheit über Deutschland nahmen die Angriffe auf Sindelfingen selbst an Zahl und Stärke zu. Der erste größere Angriff erfolgte am 8. Oktober 1943 und galt, wie nicht anders zu erwarten, Daimler und dem Flughafen. Ihm fielen im Westarbeiterlager Riedmühle 16 Menschen zum Opfer. Die Vernebelungsanlage, die Daimler-Benz seit 1942 besaß (und die viel Ärger bereitete, weil die Obstbauern um die Qualität ihrer Früchte fürchteten), hatte den Angriff nicht verhindern können.
Jetzt wurden die Zivilschutzmaßnahmen stärker als zuvor in Angriff genommen. Schon sofort nach Kriegsbeginn, im September 1939, waren alle Hauseigentümer verpflichtet worden, Luftschutzräume zu schaffen; außerdem wurden sieben öffentliche Luftschutzkeller (…) eingerichtet. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass beides nicht ausreichte, wurden ab Mitte 1943 betonierte Deckungsgräben gebaut: in der Planie für 100 Personen, in der Siedlung Zimmerplatz für 50 und an der Ecke Stumpen- und Turmgasse für weitere 100 Personen. Im Frühjahr 1944 wurden weitere Gräben beim Krankenhaus (auf dem Gelände des heutigen Rathauses gelegen) und bei der Volksschule in der Gartenstraße ausgehoben, Maichingen bekam einen Bunker im Rathausgarten, und der Klostersee wurde als Feuerlöschteich genützt.
Um der Bevölkerung und den Beschäftigten von Daimler und Hollerith zusätzlich Schutz zu bieten, wurden im Frühjahr/Sommer 1944 ausgedehnte Luftschutzstollen am Goldberg (für 300 Personen) und am Herrenwäldlesberg (1000 Personen) gegraben. Ein Teil der Arbeiten wurde von der Bevölkerung in Gemeinschaftsarbeit übernommen, den anderen mussten ausländische Zwangsarbeiter leisten, was zu einem ständigen Gerangel zwischen ihren “Arbeitgebern“ und dem Stadtbauamt führte. Beispiel: Für den 1. April 1944 hatte die Stadt von Daimler-Benz 30 bis 40 Zwangsarbeiter angefordert, am Tage darauf notierte der zuständige Sachbearbeiter: “Zugesagt, aber nicht erschienen.“
Doch alle Zivilschutzmaßnahmen konnten nicht verhindern, dass den insgesamt sechs schweren Angriffen, die zwischen Oktober 1943 und März 1945 auf das Ziel mit der Nummer GN-3802A (Sindelfingen) geflogen wurden, insgesamt 50 Menschen zum Opfer fielen – 25 Sindelfinger Bürger, 24 ausländische Arbeiter und eine nicht identifizierte Person. Der schwerste Angriff war dabei der vom 10. September 1944. Er kostete 22 Menschenleben (davon allein sechs im Deckungsgraben in der Planie), verwundete weitere 40 Menschen und machte 480 obdachlos. An diesem Tage wurden 120 Wohngebäude total und 760 weitere teilweise zerstört. Getroffen wurden unter anderem das Rathaus (dessen Balkon herunterbrach), die Apotheke, der Bereitschaftsraum des Roten Kreuzes, das Krankenhaus (bis zum 16. Oktober waren Operationen nicht möglich), andererseits aber auch die Dienststellen der NSDAP und der Deutschen Arbeitsfront. Das alles geschah binnen sechs Minuten zwischen 10.40 und 10.46 Uhr. Insgesamt fielen bei diesem Angriff 2600 Bomben auf Sindelfingen und Daimler-Benz. Ironie des Schicksals: Das “Herz“ des Betriebes, nämlich das Presswerk, wurde nicht getroffen und so wurde die Produktion bis zum April 1945 beinahe unvermindert fortgeführt.
Die Angst vor Bombenangriffen beherrschte fortan den Alltag. … Im Gegensatz zu den Angriffen auf viele andere deutsche Städte sollten die Angriffe auf Sindelfingen nicht die Zivilbevölkerung demoralisieren, sondern richteten sich gegen Daimler-Benz (dessen Gebäude bei Kriegsende zu 80 % und dessen Maschinen zu 52 % zerstört waren), aber sie zogen unvermeidlich die benachbarte Stadt, besonders ihr Zentrum, in Mitleidenschaft.
Am 19. Oktober 1944 machte sich der Gemeinderat Gedanken über den Wiederaufbau und legte als Prioritätenliste fest: “Rüstungsbetriebe, Lebensmittel-Versorgungsgeschäfte, landwirtschaftliche Gebäude und dann Wohngebäude.“ (Gemeinderatsprotokoll vom 19. Oktober 1944). In Wirklichkeit war an Wiederaufbau während des Krieges angesichts der Rohstoffknappheit, des Arbeitskräftemangels und der weiteren Bombenangriffe nicht zu denken: … Von den 1878 Wohnhäusern des Jahres 1939 waren 91 total zerstört, weitere 118 schwer, 61 teilweise und 1025 leicht beschädigt. …Trotz der furchtbaren Verluste ist Sindelfingen noch besser weggekommen als vergleichbare Städte: Der Stadtkreis Pforzheim wurde zu 66,4 % zerstört, der Stadtkreis Heilbronn zu 57 %. Und in der Nachbarstadt Böblingen wurden vor allem durch den Angriff vom Oktober 1943 28% der Häuser zerstört oder unbewohnbar und 136 Zivilisten getötet. Insgesamt sind durch Luftangriffe im Kreis Böblingen 2040 Wohnungen (= 10,8 %) zerstört und 328 Menschen getötet worden. In ganz Deutschland sind 540 000 Menschen den Bomben zum Opfer gefallen.
Die Sindelfinger Stadtverwaltung bemühte sich noch während des Krieges, die Verluste der Fliegergeschädigten auszugleichen. Bis zum 31. Dezember 1944 hatte die Stadtkasse 26 980 Reichsmark Entschädigung gezahlt, vom 2. Januar 1945 bis zum 6. April 1945 kamen weitere 11 517,50 Reichsmark hinzu – angesichts der Gesamtschäden von 4 505 740 Reichsmark (= 20,5 Prozent des Gesamtwerts der Häuser in Sindelfingen) nicht viel mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Dabei haben die Geschädigten nun wirklich mit Akribie zusammengeschrieben, was den Bomben zum Opfer gefallen war – die „Seifenschale samt Halter“ (Wert 3,50 DM), das “Frühstücksbrettle“ für 24 Pfennige, sogar die “2 Reißnägel“ (10 Pfennige) wurden nicht vergessen. Das Entschädigungsformular, das auf dem Rathaus erhältlich war, enthielt übrigens den Vorbehalt: “Ich versichere, dass ich nicht Jude im Sinne des Reichsbürgergesetzes bin.“
Erstveröffentlichung: Krieg und Wiederaufbau in Sindelfingen 1939 1949, Sindelfingen 1985, S. 32-35.
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung von Michael Kuckenburg.