Sagen und Geschichten aus dem Landkreis Böblingen
Der verlorene Esel
Eine Sage aus Merklingen
Es war einmal ein reicher Müller, der hatte eine schöne und große Mühle im Dorf Merklingen an der Würm. Er hielt auch Esel, die den Kunden das Mehl ans Haus bringen mussten. Des Morgens schickte er seinen Knecht mit den beladenen Eseln aus. Der musste die Tiere treiben, das Mehl mit den Kunden abrechnen und des Abends, wenn die Sonne über dem Schwarzwald unterging, mit den Grauen wieder in der Mühle sein.
Eines schönen Sommertags, so zwischen Johanni und Jakobi, hatte der Knecht alle neun Esel seines Herrn, mit der schweren weißen Last beladen, ins Strohgäu getrieben. Auf dem Heimweg nahm er für drei Bauern zu Heimsheim acht Säcke Korn mit heim. Damit wurden acht Esel beladen. Es schien aber dem Knecht ein Unrecht, dass der neunte Esel ledig heimtrotten sollte, und so setzte er sich selber auf das letzte Tier und trieb von dessen Rücken aus den ganzen Zug der heimischen Mühle zu. Die Tiere wussten aber den Weg in ihren Stall allein, und als die Dämmerung über den Kammerforst heraufzog, da schlief der Knecht auf seinem Esel ein.
Als der Zug vor der Mühle ankam, stand der Esel, der den Treiber trug, mit einem Male still, und der Schläfer wachte auf. Sein erstes war, dass er seine Tiere zählte. Aber ach! Eines fehlte. Nur acht Kornsäcke leuchteten hell in der wachsenden Dunkelheit. Der Knecht konnte zählen, so oft er wollte, hintersche und fürsche – es blieb bei acht Säcken. Unter jedem Sack stand ein Tier, also war der neunte Esel verloren!
Da trat der Müller aus der Tür, von dem Lärm der Ankunft gerufen. Als er die Not seines Treibers wahrnahm, da musste er lachen. Der Knecht zählte weiter und jammerte ob des Verlustes; aber der Müller lachte, und die Müllerin kam heraus, nach dem Lärm zu sehen. Und es guckten die Mahlknechte aus der Türe, und sie freuten sich wie die Magd, die aus dem Fenster ihrer Dachkammer heraus in die allgemeine Heiterkeit einstimmte.
Darob wurde der Knecht immer verdatterter und zählte auf seinem Esel sitzend immer wieder: „siebe, acht, siebe, acht.“ Da erbarmte sich der Müller endlich seines dummen Knechtes; er tröstete sich und ihn mit den Worten: „Neun Esel han i furt g’schickt, aber zehne send z’rückkomme!“
Abb. aus „Was soll ich werden?“ Ein lehrreiches Bilderbuch von Lothar Meggendorfer, Text Franz Bonn, München 1888 (Bild: Wikimedia Commons/Public Domain)
Erstveröffentlichung: „Der Häseltrog“ – Sagen und Geschichten aus Schönbuch und Gäu, bearbeitet von Eberhard Benz, Böblingen 1950. (Veröffentlichungen des Heimatgeschichtsvereins für Schönbuch und Gäu e.V. – Bd. 1)
Mit freundlicher Genehmigung des Heimtgeschichtsvereins für Schönbuch und Gäu e.V.