Grenzsteine erzählen Geschichte(n)
Das Esslinger Spital – Reicher Nachbar am Ostrand Sindelfingens
Autor: Klaus Philippscheck
Das Sindelfinger Waldstück „Großes Bernet“ liegt am Nordostrand des Stadtgebiets östlich der Autobahn. Wer sich hier auf die Suche nach Grenzsteinen begibt, dem kann es passieren, dass er – zum Beispiel auf den Wegen Richtung Katzenbacher Hof – einem Forstauto begegnet, das überraschenderweise das Kennzeichen „ES“ trägt. Eine Nachfrage beim Förster im Auto würde ergeben, dass man sich mittlerweile in einem Forstrevier des Forstamts der Stadt Esslingen befindet. Dies ist verblüffend, weil die Stadt Esslingen über 20 Kilometer Luftlinie entfernt liegt. Ein weiterer Hinweis aber ergibt, dass dieser Wald der „Esslinger Spitalwald“ genannt wird und tatsächlich noch heute der Stadt Esslingen gehört – auch wenn er seit 1806 auf Vaihinger Markung liegt.
Also macht sich der interessierte Grenzsteinsucher darauf gefasst, dass ein Kuriosum auf ihn wartet: Direkt an der Maichinger und Sindelfinger Grenze müssten sich Grenzsteine befinden, die auf der Sindelfinger Seite etwa das Sindelfinger Kreuz oder den durchstrichenen Kreis Maichingens – auf der anderen Seite aber das Zeichen der Stadt Esslingen, den schönen Reichsadler, tragen müssen. Aber solche Steine findet man nicht, sondern ein anderes Zeichen fällt überraschenderweise auf: Es ist der Dreilatz der Tübinger Pfalzgrafen, ein sogenannter „Gonfanon“, eigentlich eine an einen Lanzenschaft genagelte Kirchenfahne. Dieses Wappen der Pfalzgrafen, die im hohen Mittelalter unser gesamtes Gebiet beherrschten, findet sich noch heute als Wappen der Stadt Böblingen, auch vom Kreis Böblingen und natürlich der Stadt Tübingen wieder.
Da aber Esslingen ein anderes Wappen besitzt, geht die Suche nach der Bedeutung dieses eingemeißelten Gonfanons weiter. Der erste Hinweis findet sich im Sindelfinger Stadtarchiv: Da liegt ein dickes Protokollbuch von 1717, in dem alle Sindelfinger Grenzsteine aufgelistet und beschrieben werden. Bei den Steinen am Esslinger Spitalwald findet sich nun eine Beschreibung des Dreilatzes mit dem Hinweis: „Dies ist die Siegesfahne des Esslinger Hospitals“. Dass unser Dreilatz somit nicht darauf hinweist, dass hier Gebiet der Tübinger Pfalzgrafen war, sondern ein Besitz des Esslinger Katharinenstifts, zeigt sich auch daran, dass viele der Grenzstein-Gonfanons noch mit einem kleinen Kreuz geschmückt sind.
Sindelfinger Grenzstein NR. 93 direkt am Katzenbach mit der Siegesfahne des Esslinger Katharinenspitals. (Foto: K. Philippscheck)
Dieser Zusammenhang wird noch einmal deutlich, wenn man das Wappen an der ehemaligen Spitalkelter in Esslingen betrachtet. Da leuchtet über dem Kopf der Heiligen Katharina unser Gonfanon, genau so wie wir ihn an der Maichinger und Sindelfinger Grenze auf den Grenzsteinen entdecken. So weit reichte einst also der Besitz des Spitals, das schon 1297 die ganze Ortschaft Vaihingen und auch die Wälder bis nach Sindelfingen gekauft hatte. (Kurz zuvor hatte das Spital auch Möhringen erworben. Auch diese Ortschaft gehörte also mit Mann und Maus den Esslingern.) Die vielen im Wald noch erhaltenen Grenzsteine weisen also tatsächlich auf eine über siebenhundertjährige Nachbarschaft Sindelfingens mit Esslingen hin. Wie wichtig diese Waldgebiete waren, wird auch dadurch deutlich, dass sich auf Vaihinger Markung Besitz des Sindelfinger Martinsstifts, des Stuttgarter Stifts vom Heiligen Kreuz, des Esslinger Katharinenspitals und der württembergischen Grafen trafen. Und hier steht auch noch einer der ältesten württembergischen Grenzsteine an der ehemaligen Grenze vom Sindelfinger Stift zum Stuttgarter Stift: „1467“ ist auf ihm eingemeißelt. Dieser Stein wurde 25 Jahre vor der Entdeckung Amerikas im Pfaffenwald gesetzt!
Aber das Waldgebiet weist noch eine weitere Besonderheit auf. Warum auch immer wurden an dieser Grenze alt und brüchig gewordene Steine nicht herausgerissen, sondern neben den neu gesetzten stehen gelassen. So sind hier außergewöhnliche Dreiergruppen zu finden, die manchmal ein Zeitspektrum von über einem halben Jahrtausend umfassen. Die ältesten Steine dieser Gruppen sind noch geradezu archaisch grob, fast unbehauen. Sie tragen alle auf der Esslinger Seite ein primitives Kreuz, das als uraltes „Tabu-Kreuz“ interpretiert werden könnte: „Dieser Stein darf nicht angerührt werden. Wer es tut, hat harte Strafen zu erwarten.“ Die jeweils neuesten Steine aus dem 18. oder auch dem frühen 20. Jahrhundert sind dagegen barock-aufwendig oder modern-präzise. Es gibt mindestens zehn solcher Grenzsteingruppen, und sie stellen eine im weiten Umfeld einmalige historische Besonderheit dar.
Ein Stein an dieser Grenze soll hier schließlich auch noch gesondert erwähnt werden. Auch er muss sehr alt sein, gehört ins 15. Jahrhundert, wenn nicht noch weiter zurück. Seine seltsame Zeichnung ist trotz aller Forschungen noch nicht entschlüsselt; sie muss aber auch mit dem St.-Katharinen-Spital in Esslingen zu tun haben. Dass noch einige Geheimnisse bestehen bleiben macht auch den Reiz solcher Entdeckungsreisen aus.
Einer der ältesten Grenzsteine in ganz Württemberg aus dem Jahr 1467 mit dem Kreuz des Sindelfinger Stifts und dem Doppelkreuz des Stuttgarter Stifts. (Foto: K. Philippscheck)
Kaufleute aus Amalfi gründeten um 1050 in Jerusalem ein Hospital für arme und kranke Pilger, das eine Laienbruderschaft leitete – das erste Hospital der Geschichte. Daraus ging schließlich der Johanniterorden hervor mit dem Doppelkreuz als Zeichen.
Die Aufgaben der oft von Laienbruderschaften getragenen Spitäler waren vielfältig und folgten den Forderungen der Barmherzigkeit: Speisung, Aufnahme und Bekleidung der Armen, Beherbergung der Fremden, Pflege der Alten und Kranken sowie Bestattung der Toten. Ihr Alltag war den klösterlichen Regeln angepasst.
Durch unzählige Stiftungen wurden viele dieser Spitäler sehr reich und wuchsen zu großen geistlichen Unternehmen heran. Das überschüssige Geld wurde meist in Ländereien gesteckt oder auch in den Kauf ganzer Ortschaften. Diese finanzielle Sicherheit führte dazu, dass sich mehr und mehr Bürger in die Spitäler einkauften, wodurch diese Schritt um Schritt auch zu Altersheimen wurden. Das Kapital vieler Spitäler überstieg allmählich das Kapital der Städte, in denen sie sich befanden. Dies führte dazu, dass die Städte intensive Versuche machten, die Spitäler in ihre weltliche Verfügungsgewalt zu bekommen, um die Spitäler auch als städtische Finanzierungsinstitute nutzen zu können. Das geschah z.B. 1533 mit dem Esslinger Katharinen-Spital.
Im heutigen Kreis Böblingen bestanden einst drei gestiftete Spitäler: in Leonberg, Weil der Stadt und Herrenberg.
Einer der ältesten Grenzsteine in ganz Württemberg aus dem Jahre 1467 mit dem Kreuz des Sindelfinger Stifts und dem Doppelkreuz des Stuttgarter Stifts. (Foto: K. Philippscheck)
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Der Autor, Klaus Phlippscheck, war Lehrer in Sindelfingen und gehört zu den Mitbegründern des zeitreise-BB-Projektes. Seine Interessensschwerpunkte sind die Sindelfinger Stadtgeschichte, insbesondere die Webereigeschichte, sowie die Wiederentdeckung vergessener Sindelfinger Persönlichkeiten. Daneben arbeitete er auch zur Geschichte der Mühlen und der Grenzsteine im Landkreis BB.