November-Revolution 1918 in Böblingen und Sindelfingen
Rote Fahne über Böblingen
Autor: Michael Kuckenburg
Am 3. November 1918 meuterten die Matrosen in Kiel. Ihr Aufstand läutete den Untergang des Kaiserreichs ein. Am gleichen Tag fand in Böblingen/Sindelfingen eine große Demonstration statt, tags darauf trat die Daimler-Belegschaft für kurze Zeit in den Ausstand. Auf einer Streikversammlung kündigte sie eine dauerhafte Arbeitsniederlegung an, falls der Krieg nicht binnen acht Tagen beendet werde. Die Betriebsleitung hob im Gegenzug sofort die Nachtschicht auf, weil sie – wie ein Daimler-Chronist berichtet – „die revolutionären Arbeiter nicht in den Werkstätten haben wollte“. Aufhalten konnte sie die Entwicklung damit nicht, zumal sich überall im Reich die alte Ordnung offenkundig aufzulösen begann. In den Industriezentren und in vielen Großstädten vor allem des Nordens und Westens bildeten sich nach russischem Vorbild Arbeiter- und Soldatenräte, in Stuttgart trat die königliche Regierung am 6. November zurück, zwei Tage später wurde in München die Republik ausgerufen. „Die Vorboten der Revolution machen sich bemerkbar. Täglich finden vor dem Rathaus große Versammlungen statt. Der ganze Platz ist von Menschen gefüllt“, notierte Stadtschultheiß Hörmann in jenen Tagen.
Es waren ausgerechnet Funktionäre der Arbeiterschaft, die sich jetzt aufgerufen fühlten, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Am 9. November veröffentlichte die Sindelfinger Zeitung einen Appell des Gesamtarbeiterrates der Daimler-Werke vom 5. (oder 6.) November, in dem gefordert wurde: „Den von unbekannter Seite ausgehenden Aufforderungen der Arbeitsniederlegung ist keine Folge zu leisten. Haltet die Disziplin hoch, sie war bisher der Stolz und die Stärke der Arbeiterklasse“. Der Aufruf – er geht auf das Konto des Untertürkheimer Arbeiterausschusses – richtet sich gegen den gerade gebildeten Stuttgarter Arbeiter- und Soldatenrat und zeigt die Zerstrittenheit der Arbeiterschaft am Ende des Ersten Weltkrieges. Weil die SPD den kaiserlichen Krieg grundsätzlich unterstützte, hatte sich im April 1917 der linke Flügel der Partei selbständig gemacht und die Unabhängige Sozialdemokratie (USPD) gegründet. Mit ihr arbeitete der Spartakusbund (die spätere KPD) lose zusammen, und beide propagierten im Herbst 1918 die Beendigung des Krieges auf revolutionäre Weise.
Im Untertürkheimer Arbeiterausschuss dominierte also die „Burgfriedenspartei“1 SPD, die seit dem 3. Oktober in der Regierung saß. Dagegen hatten im Sindelfinger Zweigwerk offenbar die Unabhängigen Sozialdemokraten (obwohl die Sindelfinger USPD-Ortsgruppe wahrscheinlich erst Mitte November gegründet wurde) die Mehrheit. Unter anderem gehörten dem im Februar 1918 gewählten Sindelfinger Arbeiterausschuss an: Josef Holzner (später als Kommunist von 1945 bis 1947 Betriebsratsvorsitzender), Rosa Leibfried (Schwägerin des langjährigen SPD-Gemeinderats Robert Burger und bei den Reichstagswahlen im Juni 1920 Kandidatin der KPD) sowie der 26jährige Erich Melcher aus Hamburg, der die wichtigste Rolle während der Revolution spielen sollte.
Ironie des Schicksals: Als am 9. November der Appell des Untertürkheimer Ausschusses zur Mäßigung in der Zeitung erschien, hatten auch die Mehrheitssozialdemokraten ihre Haltung inzwischen geändert, weil die Entwicklung sonst über sie hinweggerollt wäre. Noch am gleichen Tage dankte Kaiser Wilhelm II. ab und ging nach Holland ins Exil, fast überall ergriffen Arbeiter- und Soldatenräte die Macht – auch in Böblingen und Sindelfingen.
Am Morgen des 9. November rebellierten die Soldaten der Flieger-Ersatzabteilung 10. Sie verlangten vom Garnisonskommandeur, Graf von Beroldingen, unter anderem die Freilassung der Arretierten, bessere Kost, Lohnerhöhung und die Aufhebung des Offizierskasinos. Die Erfüllung sämtlicher Forderungen wurde ihnen unverzüglich zugesagt. Etwa um die gleiche Zeit (neun Uhr morgens) stellten in einer konzertierten Aktion – Vertreter der Daimler-Belegschaft und der Soldaten hatten sich am Abend zuvor heimlich abgesprochen – die Daimler-Werke die Arbeit ein. Die Streikenden marschierten zum Flugplatz, wo die Soldaten sich ihnen anschlossen. Wie es am späten Vormittag dann weiterging, sagt uns ein zeitgenössischer Bericht:
„Nun bewegt sich der ganze Zug, voran die rote Fahne, am Bahnhof vorbei zum Postplatz. Von der Zahn’schen Veranda aus hält der Führer eine Ansprache, worin er die erlangte Freiheit preist, aber auch zur Ruhe mahnt und namentlich die Jugend vor Ausschreitungen ernstlich warnt. Die Besucher sind zumeist jüngeren Alters, darunter auch viele Arbeiterinnen. Die Mahnungen zur Ruhe sind wohl angebracht, denn gerade die Jüngsten reden von Zerstören und Fenstereinwerfen“.Am Tage darauf, so erfahren wir weiter, legten sämtliche Offiziere der Böblinger Garnison die preußische Kokarde ab. In allen Kompanien und bei Daimler wurden Soldaten- bzw. Arbeiterräte gewählt. Soldaten mit roten Armbändern zogen durch die Straßen. Am gleichen Tag erklärte sich in Berlin der Rat der Volksbeauftragten (je drei SPD- und USPD-Mitglieder) mit Friedrich Ebert als Vorsitzendem zur provisorischen Regierung. Das Kaiserreich war, wie überall in Deutschland, auch in Böblingen/Sindelfingen fast ohne Widerstand zusammengebrochen.
Flugblatt des Sindelfinger Arbeiterrates vom November 1918 (Archiv Sindelfingen)
Quelle: November 1918: Revolution in Sindelfingen? Röhm Verlag Sindelfingen 1988
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Referenz
↑1 | Am 4. August 1914 stimmten alle Parteien des Reichstages geschlossen den von der Reichsregierung verlangten Kriegskrediten zu, auch die SPD-Fraktion, obwohl sich zuvor 14 SPD-Abgeordnete parteiintern dagegen ausgesprochen hatten. Diese parteiübergreifende Geschlossenheit wurde als „Burgfriede“ bezeichnet. |
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