Feldpostbriefe eines Altdorfers aus dem 1. Weltkrieg
“Auf Wiedersehen, aber wann?“
Autorin: Dr. Helga Hager
„Auf Wiedersehen, aber wann?“
So beendet der Altdorfer Bauernsohn Johannes Henne zumeist seine Briefe von der Front in Frankreich im Jahre 1917. Diese wertvollen Zeitzeugnisse über 270 Stück befanden sich nahezu 100 Jahre lang in Familienbesitz und wurden nun an das Kreisarchiv Böblingen übergeben. Wo könnten die persönlichen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges besser zum Ausdruck kommen, als in solch authentischen biographischen Quellen?
Der 19-jährige Johannes Henne schreibt in altdeutscher Schrift, zumeist mit Bleistift, und füllt dabei jede Lücke des fragilen Briefpapiers aus. Wenn wir seine Briefe in der Hand halten, vermögen wir uns den jungen Infanteristen richtiggehend vorzustellen, ja in unserer Phantasie entwickeln sich Bilder, die uns jene fernen Kriegserfahrungen näher bringen. So berichtet Johannes Henne etwa am 23. Mai 1917, wie ein ganzes Bataillon bei lebendigem Leibe begraben wurde: Es war in einem Eisenbahntunnel geflüchtet, woraufhin die gegnerische Seite die Tunnelausgänge unter Beschuss genommen hat. Dramatisch wird es auch, wenn der Altdorfer in einem seiner letzten Briefe einen Gasangriff seitens der Franzosen schildert, der allerdings keine schwerwiegenden Folgen nach sich zog, da die Gasmasken tadellos funktionierten.
Doch nur selten geht er so detailliert auf das unmittelbare Kampfgeschehen ein, zumal die Feldpostbriefe ja auch der Zensur unterlagen. Vielmehr vermittelt er einen Einblick in den Alltag des Krieges an der Westfront: Wir erhalten 1/3 Brot, mittags gibts Graupensuppe und Pferdefleisch oder Drahtverhau und Pferdefleisch, womit er auf ironische Weise die Verpflegung im Schützengraben anspricht. Diese sei im Übrigen so knapp ausgefallen, dass man ständig Kohldampf schieben müsste.
Unter solchen Umständen wird dann auch klar, wieso er sich in all seinen Briefen so dankbar für die Pakete aus der Heimat zeigt, die neben Brot, Butter, Honig und Zucker auch ab und zu Kuchen oder sogar eine Metzelsuppe beinhalteten. Neben der Nahrung spielt auch der Zustand seiner Bekleidung eine wichtige Rolle. Nicht selten beauftragt er seine Schwester, sie solle ihm sofort ein paar frische Socken und eine Unterhose schicken!
Johannes Henne. Der Altdorfer fiel mit 19 Jahren bei Verdun. (Foto: Kreisarchiv Böblingen)
Vielfach deutet sich auch seine psychische Verfassung zwischen den Zeilen an. Beispielsweise schreibt er im August 1917 über das vergebliche Warten auf den Urlaub: Ihr könnt Euch auch nicht vorstellen, wie es ist, wenn man beinah den Urlaubsschein in der Tasche hat und dann noch auf einen Ersatzmann acht bis zehn Tage wartet. Des Herrn Wille geschehe! Diese Ablösung kommt nicht zustande, da er in eine andere Kompanie versetzt wird. Nur ein paar Tage nach seiner Versetzung spürt man förmlich, wie sich die Situation an der Front zuspitzt: Wir sind keine Minute sicher, ob wir nicht verschüttet werden, verwundet oder gar den Tod erleiden müssen. Im selben Brief noch bringt er die Aussichtslosigkeit der Lage zur Sprache, wenn er schildert, wie er sich täglich, ja stündlich an den Heiland wende, er wolle ihm doch einen Schutzengel an die Hand geben, der ihn behütet vor jeder Verwundung und gar vor dem Tode.
Johannes Henne fiel im September 1917 in Verdun.
Am 26. 5. 1917 abgestempelter Feldpostbrief von Johannes Henne an seine Familie in Altdorf. (Foto: Kreisarchiv Böblingen)
Geschrieben den 23. Mai 1917
Lieber Vater und Geschwister!
Immer noch keine Post erhalten. Im übrigen geht es mir sehr gut und bin auch gesund. Mein Fuß ist bedeutend besser. Wie ich Euch schon vorgestern geschrieben habe, hat unser Regiment unsagbar viel Verluste gehabt. Aber an Boden haben wir nichts verloren. Der Ort, wo ich bin, ist etwa drei Stunden hinter dem ersten Graben. Ihr könnt Euch schon denken, daß ich weit genug vorne bin. Und es ist schrecklich, wenn man so von der Ferne das Trommelfeuer mit anhören muß.
In dem Ort, wo ich bin, ist die Verwundetensammelstelle für unsere Division eingerichtet. Ich gehe jeden Tag 2 bis 3 mal hinunter und schaue, was für Kameraden von meiner Kompanie verwundet worden sind. Und ich habe schon manchen von ihnen getroffen, der mehr oder weniger verwundet war. Ich schaue auch immer nach den Leuten von der 12. Kompanie und frage nach Wilhelm Henne [Bruder] …
Ich könnte Euch manch schreckliche Szenen schreiben, aber ich darfs nicht! …Aber eines will ich doch erwähnen: Das 2. Bataillon meines Regiments hat in einem gut erhaltenen Eisenbahntunnel Schutz gesucht, der Franzmann nahm aber das Tunnel so unter Feuer und trommelte die Ausgänge zusammen, so daß das ganze Bataillon mit lebendigem Leibe begraben wurde, und es konnte vor lauter Trommelfeuer kein Mann gerettet werden. …
Das Wunder, daß ich die schrecklichen Tage nicht mitmachen muß, ist so groß als das in der Bibel stehende Wunder: die Speisung der 5000 Mann.
Ich will jetzt schließen.
Es grüßt Euch
Euer Sohn und Bruder
Johannes
Auf Wiedersehen.“
[ ] Redaktionelle Ergänzung
… Auslassungen im Text
Am 23. Mai 1917 abgestempelter Feldpostbrief von Johannes Henne an seine Familie in Altdorf. (Foto: Kreisarchiv Böblingen)
Quelle: Blitzlichter aus dem Kreisarchiv Böblingen, Teil 9, Oktober 2007.
Mit freundlicher Genehmigung des Böblinger Kreisarchivs
Anmerkungen zur Schriftart und Hilfestellung zum Lesen
Johannes Hennes Feldpostbriefe aus dem Jahre 1917 sind für uns heute wertvolle Quellen. Doch wird es den meisten schwer fallen, die klein beschriebenen Blätter im Original zu entziffern. Die Briefe sind in der sog. “Deutschen Kurrentschrift“ (lat.: currere = laufen) verfasst, die in Deutschland bis in die Mitte des 20. Jahrhundert gebräuchlich war. Typografisch gehört sie zu den gebrochenen Schriften. Umgangssprachlich werden deutsche Schreibschriften oft als Sütterlinschrift bezeichnet. Genau genommen ist die Sütterlinschrift eine ganz besondere Schulausgangsschrift, die 1911 vom Grafiker Ludwig Sütterlin entwickelt wurde. 1941 wurde sie zugunsten der lateinischen Schrift abgeschafft.
Schriftalphabet Deutsche Schrift und Sütterlin. (Foto: Kreisarchiv Böblingen)