Gärtringer Eisenbahngeschichte
Als der Milchwagen noch ein Milchzug war
Autor: Konrad Buck
So ändern sich die Zeiten: Als der 76-jährige Gustav Schmollinger anfangs der 50er Jahre im Gärtringer Bahnhof zu arbeiten begann, waren in Gärtringen noch sechs weitere Kollegen tätig. 1988, in seinem letzten Berufsjahr, war Schmollinger in seiner Schicht alleine im Bahnhof zugegen – eine Ein-Personen-Schicht. Seit Ende der 90er Jahre ist der Gärtringer Bahnhof für den Bahn-Betriebsablauf sogar völlig entbehrlich geworden und ist seitdem unbesetzt. Die Bahn AG hat das Gebäude bislang vergeblich zu verkaufen versucht: Niemand wollte das denkmalgeschützte Gemäuer erwerben.
Auch sonst hat sich viel verändert. Schrankenwärter, meist auch als Landwirt tätig, und Bahnhofs-Mitarbeiter, die an der Bahnsteigsperre stehen und die Fahrkarten kontrollieren das gibt’s heutzutage nicht mehr. „Das Fernsprechnetz der Bahn war früher super eingerichtet“, lobt Gustav Schmollinger. Drei Ziffern haben ausgereicht, um im internen Bahn-Fernsprechnetz zum Beispiel in Frankfurt oder in Hamburg anzurufen.Rege frequentiert war der Güterschuppen im Gärtringer Bahnhof. „Da ist viel gelaufen“, erinnert sich Gustav Schmollinger, unter anderem wegen der Deckenpfronner Firma Dongus, die ihre Öfen per Bahn transportieren ließ. Ein Großkunde aus Gärtringen war die Firma Kiefer. „Das waren Züge mit bis zu 20 Waggons“, erzählt Schmollinger. Zu Zeiten des „Wirtschaftswunders“ nahmen auch Privatpersonen den Lieferservice der Bahn in Anspruch und ließen sich beispielsweise „Quelle“- oder „Neckermann“-Produkte an ihren heimischen Bahnhof transportieren. „Wenn jemand einen Kühlschrank gekauft hat, ist der mit der Bahn angeliefert worden“, erzählt Schmollinger.
So ändern sich die Zeiten: Per Bahn lässt sich heute niemand mehr seinen neuen Kühlschrank schicken. Auch mit lebenden Tieren hatten es die Gärtringer Bahnhofs-Bediensteten mitunter zu tun, etwa als zwei Deckenpfronner Schäfer ihre Tiere auf die Bahn verladen haben. Die Züge transportierten auch tierische Produkte: Der „Milchzug“, später vom „Milchwagen“ abgelöst, holte die Milchkannen ab. Die Bauern lieferten damals die Milch zu Pferde am Bahnhof an, später auch schon mit Traktoren. Schmollinger hat zeit seines Lebens im Schichtdienst gearbeitet, manchmal also auch nachts und an Wochenenden. „Das war keine angenehme Sache“, sagt er. Zu seinen Aufgaben als Fahrdienstleiter gehörte zum Beispiel, das mechanische Stellwerk manuell zu bedienen oder Fahrkarten zu verkaufen. Von Gärtringen nach Böblingen zu fahren, kostete früher 60 Pfennige heutzutage sind’s umgerechnet etwa 410 Pfennige. Den Wechsel vom mechanischen auf elektronisches Stellwerk empfand Gustav Schmollinger als Erleichterung. „Die Weichenhebel waren von Hand schwer zu bedienen“, entsinnt er sich.
46 Berufs-Jahre hat Gustav Schmollinger bei der Bahn verbracht. Seine Ausbildung hatte er 1942 bereits im zarten Alter von 14 Jahren begonnen, damals in Bondorf. Er hat also auch noch jene Zeit miterlebt, als die Nationalsozialisten auch die Bahn vereinnahmt haben. Güterzüge beispielsweise waren mit Luftabwehr-Kanonen ausgestattet. Durchfahrende Züge wurden damals per Zeichen über einen Fliegeralarm informiert, damit die Züge an einer geschützten Lokalität (etwa einem Tunnel) stoppen konnten. Von einer fünfjährigen Gefangenschaft aus Russland zurückgekehrt, schlug Schmollinger die mittlere Beamten-Laufbahn ein. Von 1954 bis 1988 hat er im Gärtringer Bahnhof gearbeitet, für wenige Jahre unterbrochen von einem Abstecher zum Ehninger Bahnhof. Schmollinger war in den Bahnhöfen also zu Hause und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn von 1954 bis 1968 hat er im Gärtringer Bahnhof auch gewohnt.
Auf dem Abstellgleis: das „historische“ Gärtringer Bahnhofsgebäude hat für den heutigen Bahn-Betrieb keine Funktion mehr.
Erstveröffentlichung: Gäubote – Tageszeitung im Kreis Böblingen für Herrenberg und das Gäu, 26. Februar 2004.
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung des Gäuboten.
Einen kurzen Überblick über die Eisenbahngeschichte im heutigen Landkreis Böblingen mit Links zu weiteren Eisenbahnthemen auf www.zeitreise-bb finden sie hier.