Grenzsteine erzählen Geschichte(n)
Der Ihinger Hof und das Rätsel der Kanne
Autor: Klaus Philippscheck
Am Rande des sog. „Breitlaub“, einem Wald, der heute die Grenze zwischen Renningen und Magstadt bildet, steht bis heute ein einsamer alter Grenzstein. Auf der westlichen, waldzugewandten Seite trägt er als Kennzeichen das Symbol einer Kanne. In unserer Region ist dieses Zeichen einzigartig. Natürlich muss es mit einem ehemaligen Besitzer dieses Waldes zu tun haben. Sucht man nach seiner Bedeutung, erhält man interessante Einblicke in die Geschichte des Ihinger Hofes.
Wer sich auf die Spur des Rätsels um den Grenzstein mit der Kanne begeben will, der sollte sich auf den kleinen malerischen Friedhof des nahe gelegenen Ihinger Hofs begeben. Hier finden sich zwei Grabsteine, auf denen bei genauer Betrachtung die Lösung versteckt ist. Der erste Grabstein verweist auf den hier begrabenen Baron Moritz Siegfried Freiherr von Leiningen und der andere auf seine Mutter, die Freifrau Amalie Hedwig. Auf beiden Grabsteinen findet sich hier die Kanne wieder, die wohl eine Weinkanne darstellt.
Die Leininger gehörten – wie auch die auf dem nahegelegenen Sindlingen sesshaft gewordene Familie Bernerdin – zu den 160 protestantischen Adelsfamilien, die in Zeiten des Dreißigjährigen Krieges aus Kärnten vertrieben worden waren. Die Habsburger rekatholisierten ihre protestantisch gewordenen Länder wieder mit großer Brutalität. Und so flüchteten viele dieser Familien auch ins protestantische Herzogtum Württemberg. Deshalb entschlüsselt sich die Kanne auf unserem Grenzstein als das Wappenbild des Geschlechts der Leininger, das heute noch mehrfach in der Leiningerkapelle in der Kärntner Hauptstadt Villach zu finden ist.
Der Vater des auf dem Ihinger Hof begrabenen Moritz von Leiningen hatte in Württemberg durchaus Karriere gemacht: Georg Siegfried von Leiningen war Oberkammerjunker des Herzogs und Obervogt von Herrenberg geworden. Seine Frau Amalia hatte ein Drittel des Ihinger Hofs 1701 in die Ehe gebracht und ihr Mann kaufte seinen zwei Schwägerinnen den restlichen Besitz ab. Als stolzer Alleinbesitzer wird er nun den Ihinger Hof, der zum Ritterkanton Neckar-Schwarzwald gehörte, sogleich mit Grenzsteinen versehen haben, die sein Wappenbild trugen. Als Besitzer der Markung Ihingen hatte der Baron sogar das Bischofsamt für die kleine Kirche inne, die damals noch stand, und er besaß die niedere Gerichtsbarkeit auf diesem Rittergut.
Die Markung der damals noch selbstständigen Siedlung Ihingen umfasste fast 350 Hektar und so waren sicherlich viele neue „Leininger-Grenzsteine“ nötig geworden, von denen jetzt nur noch wenige stehen. Einige weitere, heute noch zu findende Grenzsteine reichen sogar noch weiter in die Geschichte zurück: Ein Stein, der 1580 aufgestellt wurde und ein großes „W“ zeigt, erzählt zum Beispiel davon, dass sich bis zum Ende des Dreißigjährigen Kriegs 1648 das ganze Gut im Besitz des Spitals der Reichsstadt Weil der Stadt befunden hatte. Ein noch älterer Stein, der das klassische Doppelkreuz solcher geistlichen Spitäler zeigt, wurde abgebrochen gefunden und steht heute im Magstadter Heimatmuseum – ein außergewöhnlicher Stein, der sogar noch eine ehemalige Zehntgrenze zeigt.
Nach dem Dreißigjährigen Krieg völlig verschuldet, musste Weil der Stadt den Ihinger Hof verkaufen. So kamen Adlige, darunter die erwähnten Leininger, in den Besitz dieses schönen Guts.
Der Grenzstein mit der Kanne. (Foto: Klaus Philippscheck)
Freifrau Amalie Hedwig von Leiningen (1684-1756), aus dem westfälischen Donop stammende Gattin des Herrenberger Obervogts, musste sich 1713 vor einer herzoglichen Kommission verantworten. Als schwärmerische Visionärin hatte sie fünf Deutungen der prophetischen Offenbarung des Johannes verfasst, in denen sie ketzerische Thesen aufstellte: Die Kirche sei „eine Hur, die Christo, ihrem Mann, ungetreu geworden“; sie gebrauche die Sakramente nicht im Sinne Christi, denn ein wahrer Christ „habe die äußerliche Taufe und das Nachtmahl nicht von nöten, sondern könne inwendig in seiner Seele mit dem Wasser des Geistes täglich getaufft werden“.
Dass die Freifrau von Leiningen wegen solcher heftiger Unbotmäßigkeit nicht ins Zuchthaus gesteckt wurde, hatte mit der hohen Stellung ihres Mannes zu tun. Aber sie musste sich auf den Ihinger Hof zurückziehen. Dieser entwickelte sich in der Folge um ihre Person und um ihren ebenfalls streng pietistischen Sohn Moritz herum zu einem regelrechten Separatistenzentrum. So finanzierten z.B. 1765 die Barone Leiningen und Bernerdin die Herausgabe einer Schrift von Friedrich Christoph Oetinger. Wer wegen ketzerischer theologischer Thesen verfolgt war, wurde auf dem Ihinger Hof aufgenommen. Auch der junge Johann Michael Hahn aus Altdorf, Begründer der Hahn’schen Gemeinschaft, hielt sich um das Jahr 1780 einige Zeit hier auf. Dieses kirchenkritische Zentrum endete mit dem Tode des unverheirateten Moritz von Leiningen, dem „Letzten seines Stammes“, im Jahre 1782.
Porträtbild Moritz Siegfried von Leiningen im Besitz des Stadtarchivs Renningen. (Foto: Stadtarchiv Renningen)
Die Erben verkauften den Ihinger Hof an die Calwer Familie von Vischer; denen folgten die Freiherren von Süskind-Schwendi. 1851 wurde das Hofgut politisch in die Markung Renningen integriert. Im Dritten Reich übernahm der Reichsnährstand die Feldflächen des Hofs, die nach dem Zweiten Weltkrieg erst in den Besitz der Bundesrepublik, dann des Landes Baden-Württemberg übergingen. Die Waldflächen des Ihinger Hofs wurden von der Freifrau von Süßkind-Schwendi 1991 einer Stiftung der Stadt Renningen übertragen. Heute befindet sich der Ihinger Hof im Besitz der Landwirtschaftlichen Universität Hohenheim.
Detail des Grabsteins von Amalie Hedwig von Leiningen (1684-1756) auf dem Friedhof des Ihinger Hof. Links oben ist deutlich das Symbol der Kanne aus dem Wappen der Leiniger zu erkennen (Foto: Klaus Philippscheck)
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Der Autor, Klaus Phlippscheck, war Lehrer in Sindelfingen und gehört zu den Mitbegründern des zeitreise-BB-Projektes. Seine Interessensschwerpunkte sind die Sindelfinger Stadtgeschichte, insbesondere die Webereigeschichte, sowie die Wiederentdeckung vergessener Sindelfinger Persönlichkeiten. Daneben arbeitete er auch zur Geschichte der Mühlen und der Grenzsteine im Landkreis BB.
Internet-Link: Eintrag zu Amalia Hedwig von Leiningen (1684 – 1756) auf den Internet-Seiten der Stadt Calw