Grenzsteine erzählen Geschichte(n)
Der Nufringer Frühmesswald
Erinnerungen an ein mittelalterliches Kirchenamt
Autor: Klaus Philippscheck
Der westlichste Bereich des Ehninger Försters liegt schon auf Nufringer Markung und wird als sogenannter „Frühmesswald“ bezeichnet. Tatsächlich waren früher viele Wälder, aber auch Wiesen und Äcker mit dem Amt des sog. „Frühmessers“ verbunden. Bis heute stehen hier einige alte Grenzsteine, die als steinerne Zeugen an dieses Amt erinnern
Im Mittelalter war der Frühmesser ein Kaplan, der den Besuch der Messe hauptsächlich für die Bauern ermöglichen sollte, die schon sehr früh aufs Feld mussten. An festgesetzten Wochentagen wurde diese Messe schon zu Sonnenaufgang gelesen. Die Vermögensgrundlage eines solchen Amts wurde meistens durch Stiftungen geschaffen.
Im ganzen Mittelalter hat es keine kirchliche Struktur gegeben, die die Besoldung für die Pfarrer zentral organisiert hätte. Sie ist jeweils vor Ort geregelt worden. Der adlige Stifter einer Ortskirche hat ihr so viel Besitz mitgegeben, dass die Kirche aus den Erträgen dieses Besitzes unterhalten werden konnte.
In Nufringen – so lesen wir in der Ortsgeschichte von Roman Janssen – ist diese Kaplanei schon 1415 belegt und wurde möglicherweise vom württembergischen Grafen Eberhard dem Greiner (1315-1392) gestiftet. Zu ihrem Vermögen gehörten ein Lehengut und der schon angesprochene Frühmesswald. Das eigene Kaplaneihaus des Frühmessers war direkt am Kirchhof gelegen.
Dazu kamen weitere Schenkungen und Stiftungen und dies alles zusammen bildete die finanzielle Grundlage zum Erhalt einer Kirche. Dieser Finanztopf, der theologisch dem Kirchenpatron (in Nufringen dem heiligen Pelagius) zustand, wurde deshalb auch der „Heilige“ genannt.
Aus diesem Fundus heraus entwickelte sich Schritt um Schritt die davon getrennte Pfarrpfründe; zu der gehörten in Nufringen einerseits die sogenannten „Eigengüter“ des Pfarrers: das Pfarrhaus, Ackerland, Wiesen, ein Baumgarten, Hanfland und 25 Morgen Wald. Die Pfarrer hatten diesen Besitz selbst zu bewirtschaften, konnten ihn aber auch verpachten. Dazu kamen andererseits noch die Erträge von zwei der Pfarrei gehörenden größeren Lehen und dem sogenannten Kleinen Zehnten weiterer Güter. Die Gemeinden stellten den Pfarrern auch Holz zur Verfügung; außerdem konnten diese ihre Schafe kostenlos auf der kommunalen Schafweide einstellen.
Nach der Reformation kam in Württemberg eine kleine feste Bezahlung dazu, die aber bei weitem nicht zum Lebensunterhalt ausreichte. Deshalb blieben diese beschriebenen Pfarrpfründen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bestehen und waren oft ungeheuer kompliziert. So hatten sich die Pfarrer noch lange mit der oft schlechten Ablieferungsmoral ihrer Pächter und Schuldner herumzuschlagen. Erst Ende des 19. Jahrhunderts übernahm der württembergische Staat die Pfarrbesoldung ganz.
Ergänzte topographische Karte des Nufringer Frühmesswaldes. (Blatt 7319 Gärtringen, © Landesamt für Geoinformation; www.lgl-bw.de)
Für einen passionierten Grenzsteinforscher stellte sich nun die Frage, ob sich diese weit zurückliegende Geschichte noch auf den heutigen Grenzsteinen widerspiegelt. Dazu musste auf der Karte der Landesvermessung von 1830 die genaue Grenze dieses Waldes gesucht werden, zumal auf diesen Vermessungsblättern oft noch die alten Grenzsteine mit eingezeichnet worden sind. Tatsächlich war der Frühmesswald präzise mit all seinen Grenzsteinen dargestellt, so dass der Versuch unternommen werden konnte, die noch vorhandenen Grenzsteine vor Ort zu entdecken.
Tatsächlich trifft man im hochgelegenen Wald am Rohrauer Schlossberg – dort, wo Nufringen und Gärtringen-Rohrau eine gemeinsame Grenze haben – auf eine ganze Reihe erhaltener Grenzsteine. Betrachtet man diese Steine näher, so spiegeln sie tatsächlich wieder, dass diese Waldabteilung einst der Pfründwald eines Pfarrers gewesen sein muss. Das Holz, das hier geschlagen wurde, gehörte vertraglich zum Einkommen des Nufringer Pfarrers. Der Beweis dafür ist auf einigen der Steine ganz deutlich zu erkennen: sie haben nämlich auf ihrer Nufringer Seite einen Kelch eingeschlagen.
Der Abendmahls- oder Messkelch galt seit dem frühen Mittelalter als Symbol für den Pfarrer. Nur er durfte den Kelch berühren. Auch auf vielen Grabplatten von Pfarrern findet sich dieses „Pfaffenkelch“ genannte Kennzeichen, das ihnen auch mit ins Grab gegeben wurde. Von dort her ist auch verständlich, dass Grenzsteine, die ein Territorium abgrenzten, dessen Nutzung dem Pfarrer vorbehalten war, mit einem Kelch gekennzeichnet wurden. So ist es auch rund um den Nufringer Frühmesswald herum, dessen Steine sogar konsequent durchnummeriert sind. An der Südwestecke unten im Krebsbachtal stand der Stein Nummer 1; die weiteren ziehen sich sehr steil den Berg hinauf. Wer diesen Weg verfolgen will, muss 77 Meter Höhenunterscheid überwinden: ein schwieriges Waldstück also für den Pfarrer! Dann zieht sich die Grenze wieder gen Norden hinunter, Rohrau und seinem Krebsbach entgegen, an dem entlang es dann wieder zur Position des Steins Nummer 1 zurückgeht – insgesamt sind hier laut der Karte der Landesvermessung 24 Steine vorgesehen – und der Stein mit der Nummer 24 steht noch brav im Tal und trägt seinen Kelch.
Faszinierend ist für historisch Interessierte immer wieder, dass sich mittelalterliche Namen und Zeichen – wie z.B. der Kelch – Jahrhunderte lang über wechselnde Zeiten halten. Das sehen wir auch im Nufringer Wald: Alle Steine, die den Kelch tragen, sind mit der Jahreszahl 1795 gekennzeichnet. Daran ist zu erkennen, dass noch immer der Kelch als uraltes Zeichen genutzt wurde, obwohl es seit der Reformation 1535 gar kein Frühmesseramt mehr in Nufringen gab und dieser Wald vom Herzogtum Württemberg eingezogen worden war.
Stein Nummer 24 am unteren Nufringer Frühmesswald mit Kelchsymbol. (Foto: Klaus Philippscheck)
Bei der Wanderung an der Grenze des Frühmesswaldes entlang fällt dann allerdings auf, dass die übrigen Steine mit der württembergischen Hirschstange gekennzeichnet sind. Die Erklärung dafür ist schnell gefunden: Steine, die nach 1795 ersetzt werden mussten, sollten zeigen, dass mit der Schaffung eines Königreichs Württemberg 1806 nunmehr das gesamte Kirchengut in Staatsbesitz überführt worden war. Das betraf nunmehr auch den zweiten Nufringer Pfarrwald, dessen Nutzung dem ersten Pfarrer zustand. Das heißt, dass seit 1806 die Zeit der Kelche auf den Steinen vorüber war und nun die Hirschstange des Königreichs Württemberg dominierte. Diese beiden Wälder sind übrigens noch heute in Staatsbesitz.
Manche seiner Wälder hat der Staat im Verlaufe der Geschichte aber abgegeben. Diese Situation finden wir auch in Nufringen. Der Wald des einstigen württembergischen Waldvogts ist so in den Besitz der Gemeinde gekommen und manche Waldteile wurden an Privatleute weiterverkauft und im Laufe der Zeit sind sie zu sehr schmalen Parzellen geworden. In dieser Grundstruktur findet der Besucher die Situation heute noch vor. Die Staatswälder tragen die Hirschstange, während die Privatbesitzer nur selten auf den Grenzsteinen mit eigenen Zeichen auftauchen; die Gemeindewälder tragen dagegen immer die sogenannten Fleckenzeichen: Im Fall Nufringen sind das entweder ein Pflugmesser, also die sogenannte Sech, oder seltener die im Nufringer Wappen abgebildete Hafte, wohl auch ein Teil des Pflugs.
Stein Nummer 21 im Krebsbachtal mit württembergischer Hirschstange. (Foto: Klaus Philippscheck)
Eine besondere Situation findet der interessierte Besucher unweit des Frühmesswaldes vor: Da treffen der alte Nufringer Pfarrwald, der Nufringer Privatwald und die Ortschaften Rohrau und Hildrizhausen an einem Punkt zusammen. Dass der Stein, der dies dokumentiert, noch vorhanden ist, ist ein kleines Wunder. Der Böblinger Grenzsteinforscher Peter Göbell hat diesen „Viermärker“ dankenswerterweise wieder aufgerichtet, aber er müsste bei Gelegenheit grundsätzlich gesichert werden.
In manchen Ortschaften wurde der Messkelch sogar zum allgemeinen Fleckenzeichen. In unserer Nähe gilt das für Gärtringen und Haslach bei Herrenberg. Hier wurde aus dem kirchlichen Zeichen also ein rein weltliches, das in beiden Fällen auch ins Ortswappen aufgenommen worden ist. Der Kelch auf den Nufringer Steinen aber erzählt uns vom Amt des Frühmessers, dessen Entwicklung der tiefen Frömmigkeit des späten Mittelalters geschuldet war. Warum es dieses einst häufige Amt seit der Reformation in Württemberg nicht mehr gibt, ist eine theologische Frage, die die schönen Nufringer Kelche aufwerfen.
Der Kopf eines seltenen „Viermärker“. Hier treffen der alte Nufringer Pfarrwald, der Nufringer Privatwald und die Ortschaften Rohrau und Hildrizhausen zusammen. (Foto: Klaus Philippscheck)
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Der Autor, Klaus Phlippscheck, war Lehrer in Sindelfingen und gehört zu den Mitbegründern des zeitreise-BB-Projektes. Seine Interessensschwerpunkte sind die Sindelfinger Stadtgeschichte, insbesondere die Webereigeschichte, sowie die Wiederentdeckung vergessener Sindelfinger Persönlichkeiten. Daneben arbeitete er auch zur Geschichte der Mühlen und der Grenzsteine im Landkreis BB.