Grenzsteine erzählen Geschichte(n)
Die Steine der Fürstin Colloredo-Mansfeld um Sindlingen
Autor: Klaus Philippscheck
Die meisten, die das südlich von Herrenberg gelegene Sindlingen besuchen, zieht es in die Reitanlange von Vielseitigkeitstrainer Fritz Pape. In den Mauern des alten Wasserschlosses ist heute ein stilvolles Reiterhotel untergebracht. Das Schloss stammt noch aus den Zeiten der Herren von Gültlingen und bildete einst das Zentrum des dazugehörigen Ritterguts. Manch einer mag auch einen Blick in die kleine Mauritiuskirche werfen, in der viel an die fromme Pietistin und spätere Ehefrau Herzog Carl Eugens, Franzika von Hohenheim, erinnert oder er wendet sich dem kleinen malerischen Friedhof zu, auf dem der Gründervater der Hahnschen Gemeinschaft, Michael Hahn, begraben liegt.
Die zahlreichen bemoosten Grenzsteine, die sich ebenfalls auf dem Gebiet des ehemaligen Schlossguts befinden, wirken dagegen recht unscheinbar. Betrachtet man sie näher, dann fällt auf, dass sie – mit einer einzigen Ausnahme – alle perfekt durchnummeriert sind und auch dieselbe Jahreszahl – nämlich das Jahr 1814 – tragen. Sie müssen also alle gleichzeitig gesetzt worden sein. Was aber bildete den Hintergrund für diese außergewöhnliche „Versteinungsaktion“?
Ein Blick in die Bestände des Stuttgarter Staatsarchives konnte das Rätsel auflösen und die Geschichte des Sindlinger Schlossgutes um eine interessante Episode bereichern.
Das Sindlinger Gut war 1782 in den Besitz der Franziska von Hohenheim gekommen. Diese ist noch heute weithin bekannt als Mätresse und spätere Ehefrau des absolutistisch regierenden württembergischen Herzogs Carl Eugen. Als Nichte des Freiherrn Sigfried von Bernerdin, des ohne Nachkommen gestorbenen Besitzers des Schlossguts, hatte sie Sindlingen geerbt. Dies war damals ein reichsunmittelbares Rittergut, das als fast selbstständig galt und nicht direkt zu Württemberg gehörte. Deshalb war es ganz sicher einmal mit Grenzsteinen versteint worden, um es vom württembergischen Territorium abzugrenzen.
Immerhin war es Teil des Ritterkantons Neckar-Schwarzwald im Ritterkreis Schwaben, zu dem unter vielen anderen Gütern auch Deufringen, Mauren und der Ihinger Hof gehörten. Diese Selbstständigkeit ging verloren, als alle Kleinterritorien 1805 mediatisiert, also vom Herzogtum Württemberg geschluckt wurden. Der Sindlinger Besitz lag nun auf den Markungen verschiedener Gäuortschaften verteilt. Und nun kommen die 1814er Grenzsteine ins Spiel.
Grenzstein der Markung Sindlingen mit der Nummer 23. Alle Steine sind perfekt durchnummeriert und tragen alle die Jahreszahl 1814. (Foto: Klaus Philippscheck)
Im Jahr 1812 kaufte die Fürstin Maria Philippine von Colloredo-Mansfeld, geb. Gräfin von Oettingen-Katzenstein-Baldern (1772-1842), das Sindlinger Gut, dazu auch einen Teil von Öschelbronn. Die Familie der Colloredo-Mansfeld gehörte zum hohen habsburgischen Adel, die Fürstin Philippine zum Beispiel war Hofdame der Kaiserin in Wien, ihr Mann Rudolf dort Obersthofmeister. Diese hochrangige Fürstin stellte in Stuttgart sofort den Antrag auf Wiedereinrichtung einer Markung Sindlingen, wohl um nicht von den Schultheißen und Gemeinderäten der umliegenden Gemeinden abhängig zu sein. Solch ein Zustand schien ihr vermutlich unerträglich. Dass diesem Antrag stattgegeben wurde, passte 1812 ins Bild: Der erste württembergische König, Friedrich I., sah sich ganz in der Tradition des zentralistischen und absolutistischen Fürstenstaats der Vergangenheit, bürgerliche Interessen waren zweitrangig. Und so hieß es bald, dass der neuen Besitzerin „des Schloßguths Sindlingen das Recht einer eigenen Markung allergnädigst bewilliget“ worden sei.
Das Oberamt Herrenberg bestellte nun Kommissionen, die auf Grund eines neuen Plans die Setzung neuer Grenzsteine auszuarbeiten hatten. Sehr schnell wurden diese umgesetzt und protokollarisch festgehalten. Darin wurden die Gemeinden aufgezählt, die Teile ihrer Ortschaften für die Schaffung der neuen Markung Sindlingen hergeben mussten: Unterjettingen, Oberjettingen, Haslach und Nebringen. Viele Seiten des Aktenbündels im Staatsarchiv bestehen aus Einsprüchen dieser Ortschaften, die sich vehement gegen eine eigene Markung für die neue Besitzerin des Schlossguts wandten. Aber es war hoffnungslos; man hatte nicht nur große Gebiete abzugeben, sondern musste auch auf Steuereinnahmen und Waldrechte verzichten und hatte stattdessen Zehntzahlungen an die Fürstin zu leisten. Noch 1830 wurden diese Zehntgrenzen in die neuen Pläne eingezeichnet.
Am südöstlichen Eck des Hubwaldes im Norden des Schlossguts begann nun die Nummerierung der Steine mit der Nummer 1 – und sie lief dann im Uhrzeigersinn mit etwa 110 Steinen um die Markung herum. Nur an der Westgrenze, wo diese über die Felder läuft, sind die Steine weitgehend verschwunden. In allen anderen Bereichen sind noch viele Steine zu finden, wenn auch oft angeschlagen und abgekippt. Leider sind im Nordosten Sindlingens in letzter Zeit ebenfalls Steine verschwunden.
Markung Sindlingen nach 1814. Ergänzte topographische Karte (Blatt 7418 Nagold). © Landesamt für Geoinformation und Landentwicklung
Die kinderlose Fürstin Colloredo-Mannsfeld blieb 28 Jahre im Besitz Sindlingens. Dann verkauft sie das Gut 1840 an die Hofkammer Württemberg und zog aus Württemberg weg. Kurz darauf starb sie. Käufer Sindlingens mit 220 000 Gulden war die königliche Hofdomänenkammer, die den persönlichen Besitz des Königshauses verwaltete. Nach der bürgerlichen Revolution 1848 wurden durch König Wilhelm I. alle übriggebliebenen feudalen Sonderrechte abgeschafft. Für Sindlingen bedeutete das beispielsweise die Aufgabe der alten Lehens- und Zehntstrukturen und der niederen Gerichtsbarkeit, Abschaffung der Kleinen und Großen Jagd für den Besitzer Sindlingens, auch auf Öschelbronner Markung. Außerdem wurde das 220-Hektar-Gut jetzt politisch nach Unterjettingen eingegliedert. Das Zwischenspiel einer eigenen Sindlinger Markung war nach 35 Jahren wieder beendet, diesmal endgültig.
Sindlingen blieb als Staatsdomäne bestehen bis 1954, als diese der Württembergischen Landsiedlung übergeben und zu Siedlungszwecken aufgeteilt wurde. Verblüfft stellt der Grenzsteinsucher fest, dass sich all diese politischen Ereignisse nicht in neuen oder veränderten Grenzsteinen niederschlagen – nein, seit 199 Jahren stehen die Grenzsteine der Fürstin Colloredo-Mansfeld und berichten uns so von längst vergangenen, vordemokratischen Zeiten.
Moosbewachsener Stein mit der Nummer 21 an der Markungsgrenze zu Haslach. Der Kelch ist das Fleckenzeichen von Haslach. (Foto: Klaus Philippscheck)
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Der Autor, Klaus Phlippscheck, war Lehrer in Sindelfingen und gehört zu den Mitbegründern des zeitreise-BB-Projektes. Seine Interessensschwerpunkte sind die Sindelfinger Stadtgeschichte, insbesondere die Webereigeschichte, sowie die Wiederentdeckung vergessener Sindelfinger Persönlichkeiten. Daneben arbeitete er auch zur Geschichte der Mühlen und der Grenzsteine im Landkreis BB.