Gültstein in der Herrenberger Oberamtsbeschreibung von 1855
„ihr Sinn für Religion nimmt zuweilen eine pietistische Richtung“
Autor: Eduard Paulus
Gültstein, Gemeinde II. Klasse mit 1,022 evang. Einw. a. Gültstein, Pfarrb., 1005 Einw. b. Kochmühle, 7 Einw. c. Gipsmühle, 4 Einw. d. Gültsteiner Mühle, 6 Einw.
Der Ort hat auf dem sogenannten Gäu eine gegen die zunächst vorbeifließende Ammer südlich geneigte, gesunde Lage, 1/2 Stunde südlich von der Oberamtsstadt; er brannte im Jahr 1784 beinahe ganz ab und wurde nachher regelmäßig wieder erbaut und mit breiten Ortsstraßen versehen, die gegenwärtig reinlich gehalten, jedoch nicht gekandelt sind. Die einfachen, nicht besonders ansehnlichen Wohnungen sind aus Holz erbaut und zuweilen mit steinernen Unterstöcken versehen. Die Ansicht des Dorfes ist etwas einförmig und kahl, da ihm Obstbäume in der nächsten Umgebung gänzlich fehlen.
Die im nördlichen Theile des Orts gelegene ansehnliche Pfarrkirche, welche die Stiftungspflege, mit Unterstützung aus der Gemeindekasse, zu unterhalten hat, wurde bei der Wiederherstellung nach dem Brande, der nur die vier Wände verschont hatte, der Füllungen an den schön construirten Spitzbogenfenstern im Schiff und Chor beraubt. Von den Eingängen hat sich jener an der Westseite noch von dem ursprünglichen Bau in romanischem Styl erhalten, während die übrigen in der germanischen Bauweise ausgeführt sind, so daß man an der Kirche drei Hauptbauperioden deutlich wahrnehmen kann, nämlich die ursprünglich romanische, welche später in die germanische geändert und endlich nach dem Brande modernisirt wurde. Im Innern der geräumigen Kirche ist außer einem ausgezeichnet schönen, lebensgroßen Holzbild des Gekreuzigten ein gut gemaltes Bild des 1704 gestorbenen Pfarrers Joh. Ludwig Cappel zu bemerken. Der mit 8 Fuß dicken Mauern versehene viereckige Thurm, welcher gegen oben in ein Achteck übergeht, ist von unten herauf mit Schußscharten versehen und diente ehemals zur Vertheidigung des befestigten, mit hohen Mauern umgebenen und mit Thürmen versehenen Kirchhofes; (…)
Das gegenüber der Kirche gelegene, 1835 neu erbaute Pfarrhaus, nebst Nebengebäuden, Hof und Garten, wird von der Königl. Hofdomänenkammer unterhalten.
Das ehemalige Hirschau’sche Pflegegebäude, nachher Gasthof zur Linde, kaufte 1843 die Gemeinde um 6.025 fl.1 zu einem Schulhaus, das nun neben der Volksschule, an welcher ein Schulmeister mit einem Lehrgehilfen angestellt ist, auch die Wohnung für diese enthält; übrigens besteht auch eine Industrieschule.
An der Stelle des früheren Schulhauses wurde im Jahr 1844 mit einem Aufwand von 2500 fl. ein massives Gemeinde-Back- und Waschhaus erbaut.
Das gut erhaltene, nach dem Brande erbaute Rathhaus mit Thürmchen und Glocke steht unfern der Kirche, ebenso die der K. Hofkammer gehörige Zehentscheuer nebst Fruchtkasten.
Gesundes Trinkwasser liefern in hinreichender Fülle sechs laufende Brunnen, …, und zwei Pumpbrunnen. … Bei der Gipsmühle bestand früher ein acht Morgen großer See, der schon längst in Wiesen umgewandelt wurde, welche noch die Seewiesen genannt werden.
Die wohlgewachsenen, kräftigen Einwohner sind fleißig, geordnet, sparsam und verständig, ihr Sinn für Religion nimmt zuweilen eine pietistische Richtung. Die Vermögensumstände derselben sind im Allgemeinen ziemlich gut, obgleich es auch an Armen und sogar an Bettlern nicht fehlt. Der bedeutendste Güterbesitzer hat 80 Morgen2 Felder.
Ackerbau und Viehzucht sind die Haupterwerbsquellen der Einwohner; die betriebenen Gewerbe dienen nur den örtlichen Bedürfnissen, mit Ausnahme der drei an der Ammer gelegenen Mühlen, welche auch für die Umgegend arbeiten.
Überdies wird auf der Markung in sechs Brüchen Gips gewonnen, welcher in drei durch Pferde getriebenen Mühlen und in der an der Ammer gelegenen Gipsmühle gemahlen und in der weitern Umgegend verkauft wird, wodurch mehrere Familien ihr Auskommen sichern. Auch zwei Lettenkohlensandsteinbrüche, welche vortreffliche Werksteine liefern, beschäftigen mehrere Personen und geben den Besitzern einigen Gewinn. Außer diesen sind drei Muschelkalksteinbrüche, aus denen ein mittelmäßiges Straßenmaterial gewonnen wird, und zwei Lehmgruben vorhanden. (…)
Der Boden ist im Allgemeinen ergiebig und liefert guten Dinkel, Hafer und vorzügliche Gerste;… Das Klima ist ziemlich mild und gesund; Gurken, Bohnen etc. gedeihen, dagegen schaden nicht selten Frühlingsfröste dem Obst und feineren Gewächsen; Hagelschlag kommt nur selten vor.
Die Landwirthschaft wird im Dreifeldersystem emsig gepflegt. (…) Der Weinbau, …, ist längst abgegangen, dagegen hat sich die Obstzucht namhaft gehoben; (…)
Zu Gültstein gehörte bis zum Jahre 1833 kirchlich und politisch die jetzt eigene Gemeinde Mönchberg; beide Orte hatten Markung, Waldungen und Bürgerrecht gemeinschaftlich, so daß die Einwohner ohne besondere Aufnahme von dem einen Orte in den andern ziehen konnten, auch die Heilige- oder Stiftungspflege war gemeinschaftlich. (…)
Ursprünglich hieß der Ort, dessen Name von dem altdeutschen Namen Gistlo abzuleiten ist, Giselstete, Giselsteden, Gilistan, Gilesten, Gilstein, Chilesten (…) und würde richtiger Gilstein, als Gültsein geschrieben; es lag an der alten Reichsstraße. Seine erste, freilich nur in einem Urkundenauszug erhaltene Nennung fällt in’s Jahr 769, in welchem das Kloster Lorch an der Bergstraße hier Güter erhielt. (…)
Späterhin gehörte das Dorf zur pfalzgräflich tübingischen Herrschaft Herrenberg, bei deren Theilung im Jahr 1334 es mit Gut und Leuten, mit allen Rechten, der Vogtei, dem Kirchensatz, den Zehnten und Widemgütern in den Besitz des Pfalzgrafen Rudolf kam (Schmid Urk. 165) und mit welcher es am 10. Febr. 1382 an Württemberg (Schmid Urk. 193), …, gelangte.
Hiesige Ortsadelige, welche meist Machtolf, einige auch Konrad, Swigger etc. hießen, kommen vor um 1125 bis gegen Ende des 14. Jahrhunderts, sie führten im Wappen einen Fuchs (Schmid Urk. 162). … Auch die Roller von Gültstein, von welchen am 17. März 1328 Gotfried der Roller sein Besitzthum an den Pfalzgrafen Rudolf und Konrad verkaufte (Schmid Urk. 158), gehörten zum hiesigen Adel. (…)
Das bereits genannte Kloster Hirschau, welchem bei seiner Wiederbestellung im Jahr 1075 hiesige Güter bestätigt wurden (ad Gilistan, Wirt. Urk.Buch 1, 279) rundete sich seinen hiesigen Besitz immer mehr ab (…) und kam in den Genuß großer Gefälle, endlich auch des Zehnten. Von den Pfalzgrafen von Tübingen erhielt es die Erlaubniß, das zu den Bauten in seinem Hof nöthige Holz im Schönbuch fällen zu lassen, wofür es ihnen aus seinem Weingarten in Gültstein jährlich einen Karren Wein liefern mußte. … So war denn auch eine Hirschauer Klosterpflege hier, welches Amt in Kirchenrathszeiten in den 1740ger Jahren der bekannte Wittleder verwaltete bis zu seiner Weiterbeförderung im Jahr 1756, wo dasselbe mit der Stiftsverwaltung in Herrenberg combinirt wurde. (…)
Auch heute noch prägt die Landwirtschaft das Landschaftsbild um die Gäugemeinden. Gültstein inmitten reifer Getreidefelder im Sommer 2003, im Hintergrund die alte Oberamtsstadt Herrenberg mit ihrer Stiftskirche. (Foto: Susanne Schmidt)
Quelle: Beschreibung des Oberamts Herrenberg. Herausgegeben von dem königlichen statistisch-topographischen Bureau, Stuttgart 1855.
Der Text wurde gekürzt.
Im Jahre 1820 wurde auf Dekret des württembergischen Königs Wilhelm I das „königliche statistisch-topographische Bureau“ in Stuttgart gegründet. Zwischen 1824 und 1886 wurden dort genaue Beschreibungen aller 64 württembergischen Verwaltungsbezirke und ihrer Gemeinden erarbeitet. Die Oberamtsbeschreibungen sind eine interessante und unverzichtbare Quelle zur württembergischen Landeskunde und werden als Reprint immer wieder aufgelegt. Als 34. Band erschien im Jahre 1855 die Beschreibung des Oberamts Herrenberg. Auf dem Internet-Portal Wikisource kann diese bereits vollständig eingesehen werden. Hier finden Sie auch die ungekürzte Version der Beschreibung von Gültstein.
Referenz
↑1 | 1 Gulden (fl) = 60 Kreuzer (kr). Nach der Währungsumstellung entsprach 1 Gulden ca. 1,71 Mark. Legt man für eine grobe Währungsumrechnung aktuelle Lebensmittelpreise zugrunde, dürfte ein Kreuzer etwa den Gegenwert von 0,80 € gehabt haben. Die Guldenwährung im süddeutschen Raum bestand von ca. 1550 – 1875. |
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↑2 | 1 württ. Morgen = 31,52 Ar. |