Zur Inflation im Leonberger Raum
Stellvertretend für die anderen Gemeinden des heutigen Kreises Böblingen soll der Leonberger Raum stehen, war doch die Entwicklung identisch oder zumindest sehr ähnlich.
Betrachtet man die in der Landeshauptstadt Stuttgart gezahlten Preise ausgewählter Waren, dann stellt man schon für die Jahre 1919 bis Februar 1922 eine Entwicklung fest, die man als eine schleichende Inflation bezeichnen kann. Ab Juli 1922 zieht diese deutlich an, so daß bereits Ende 1922 der Begriff galoppierende Inflation nicht unangemessen ist.
Die Besetzung des Ruhrgebiets am 11. Januar und die damit verbundenen unmittelbaren finanziellen Lösungsversuche und deren Folgen spiegeln sich sofort in den Preisen wider. Die Preisentwicklung in Herrenberg, Böblingen, Sindelfingen, Weil der Stadt, Leonberg verläuft nahezu parallel zu der in der Landeshauptstadt Stuttgart, mit dem großen Unterschied, dass die Bevölkerungskreise, die bei uns über Gärten, Äcker und sonstige Flurstücke verfügen, aufgrund einer möglichen Selbstversorgung partiell besser gestellt sind und zudem noch über Naturalien verfügen, die Tauschgeschäfte enorm erleichtern.
Wie heißt es? Essen muß man immer, sofern man etwas zum Essen hat – und wenn nicht, dann muß dieses irgendwie eingetauscht werden, denn in dieses Papiergeld mit seinen immer größer werdenden Geldbeträgen, den Hundertausendern, den Millionen ja Milliarden und später sogar Billionen, Zahlen, von denen es einem fast schwindelig wird, in dieses Geld hat kein vernünftiger Mensch mehr Vertrauen. So tauscht man dann z. B. einen Ofen gegen Weizen und Gerste, eine alte Nähmaschine gegen junge Hühner und Weizen oder einen Kittel mit Stiefeln gegen Stallhasen, Stiefel gegen Kartoffeln, Heu oder Stroh gegen Most und Mostobst gegen Frucht (Brotgetreide).
Aufgrund des dramatischen Währungsverfalls ist sogar der Bezugspreis des Leonberger Tagblatts nunmehr in Naturalien zu entrichten. Für diejenigen, die nichts zum Tauschen haben, wird es sehr bitter.
Wenn nun die Güter und Dienstleistungen, die gegen Geld erhältlich sind, in immer geringerem Maße auf dem Markt erscheinen, da der Hersteller dieser Güter etc. mit dem immer wertloser werdenden Geld, das er seinerseits für diese Waren bekommt, weder die verarbeitete Rohstoffe ersetzen kann noch in der Lage ist, seine Arbeitern täglich den Lohn inflationsangepasst auszubezahlen, den sie verdient haben, dann sind Massenentlassungen und eine weitere Verarmung der Bevölkerung die Folge. Warum auch sollte jemand, der z. B. ein Einzelhandelsgeschäft hat, eingekaufte Waren für ein Geld hergeben, mit dem er mit sehr großer Sicherheit seine verkauften Warenbestände nicht wieder auffüllen kann, geschweige denn, er von diesem Verkaufserlös seinen Lebensunterhalt mitbestreiten kann.
Kurz vor der Einführung der Rentenmark ist in unserem Raum der Bezirksrat gezwungen, Inflationsnotgeld drucken zu lassen. Aufgrund der rasanten Geldentwertung kommt es zu einer Zahlungsmittelknappheit (!) und das Oberamt Leonberg ist nicht mehr in der Lage, die notwendigen Geldmittel zur Auszahlung der Gehälter und der Arbeitslosen- und Sozialunterstützung aufzubringen. Auch die Oberamtssparkasse hat nicht genügend Geld, da von der Reichsbank nichts (mehr) zu bekommen ist. Wie bereits oben gesagt, drucken rund 30 Druckereien in Deutschland Geld, und trotzdem ist wegen dieser Hyperinflation nicht genügend Geld vorhanden.
In dieser bizarren Situation wird die Druckerei Reichert in Leonberg beauftragt, Geld zu drucken: 20 000 Scheine zu 5 Milliarden und 20 000 Scheine zu 20 Milliarden. Die Liquidität ist wieder hergestellt. Wir fragen aber besser nicht nach der Deckungsgrundlage dieses Geldes. Der Wert dieses Geldes ist offensichtlich. Eine Lösung dieser Hyperinflation muß gefunden werden.
In dieser Situation sind die öffentliche Hand und die Gemeinden zusätzlich gefordert.
So bekommt zum Beispiel die Gemeinde Renningen vom Kommunalverband im August 1923 für die mittleren und ärmeren notleidenden Einwohner acht Zentner (ein Zentner hat 50 kg) Zucker. Im Oktober stellt das Ernährungsministerium auf Vermittlung des Oberamts Leonberg einen Kredit (!) in Höhe von 10 Billionen Mark zum Kauf von Weizen und Kartoffeln zur Verfügung, und die Renninger, die nichts mehr verdienen können sollen sich zur Verteilung beim Rathaus melden. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, wie Waldarbeiten und Bachputzete sollen für etwas Brot und Arbeit sorgen.
In der Oberamtsstadt Leonberg ist die Lage sehr ähnlich. Für die Versorgung Bedürftiger besorgt die Stadt Leonberg Kartoffeln. Der Stellenwert von Kartoffeln war ein ganz anderer als heute, aßen doch die Menschen viel viel mehr Kartoffeln als jetzt. Für die Armen waren billige Kartoffeln die Nahrungsgrundlage, weswegen exemplarisch die Kartoffelproblematik beleuchtet werden soll: Schon im Februar 1921 beschließt der Leonberger Gemeinderat den stadteigenen Kartoffelvorrat von über 400 Zentnern unter dem Selbstkostenpreis, dieser liegt zwischen 30 und 32 Mark, für 28 Mark pro Zentner abzugeben.
Die Vor- und Fürsorgemaßnahmen der Stadt Leonberg führen im Spätjahr 1921 zum Kauf von 1042 Doppelzentnern (ein Doppelzentner hat 100kg) Kartoffeln für die Winterversorgung der bedürftigen Bevölkerungsteile. Jetzt kosten die Kartoffeln schon 65.- Mark pro Zentner, was als günstig gilt, hat man doch in den umliegenden Gemeinden deutlich mehr zu zahlen.
Die allgemeine Versorgungslage verschärft sich weiter, und damit auch die Zahl der Bedürftigen. Im September 1923 bezieht die Stadtverwaltung bereits 2000 Doppelzentner Kartoffeln aus dem Oberschwäbischen, wofür eine Anzahlung von 5 000 000 000 .- Mark zu leisten ist. Pro Zentner muß Anfang September 1923 zwischen 12 und 15 Millionen Mark bezahlt werden. Bis Anfang November sind sage und schreibe 5000 Zentner Kartoffeln in Leonberg eingetroffen. Die Preise pro Zentner bewegen sich bereits zwischen 14 und 230 Milliarden Mark pro Zentner. Damit die Stadt diese Kartoffeln in Vorauslage bezahlen kann, muß sie einen Reichsbankkredit von rund 350 000 000 000 000 (350 Billionen) Mark aufnehmen. Am 6.November 1923 setzt der Leonberger Gemeinderat den Abgabepreis von 60 Milliarden Mark pro Zentner fest. Die Versorgungslage mit Milch, Fleisch, Getreide und Mehl ist ähnlich angespannt und auch hier interveniert der Leonberger Gemeinderat im Rahmen seiner Möglichkeiten.
Desweiteren gibt es im Leonberger Rathaus eine Wärmestube und im Krankenhaus eine kostenlose Suppe für Alte und Arbeitsunfähige. Auch Holz darf im stadteigenen Wald gelesen werden.In Eltingen sammelt man für die Schulspeisung hungrig gebliebener Kinder.
Wie überall gehen auch in Leonberg die Arbeitslosenzahlen drastisch in die Höhe. Im April werden in Leonberg 16 Vollerwerbslose und 240 Kurzarbeiter gezählt, arbeiten doch die beiden Schuhfabriken des Orts nur noch an drei Tagen pro Woche. Auch hier reagiert die Gemeinde mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Erwerbslose bauen im Rahmen der produktiven Erwerbslosenfürsorge zusammen mit anderen Arbeitslosen der Gegend die Mahdentalstraße vom Glemseck bis zum Schatten. Das damals noch selbständige Eltingen beschäftigt seine Arbeitslosen mit Forstarbeiten, dem Ausbau von Waldwegen oder im Steinbruch. Dadurch erhalten die Straßen endlich Kandeln.
Aus Verzweiflung wandern viele aus unserem Raum nach Amerika aus.
Ab Dezember 1923 kehren allmählich wieder normalere Verhältnisse ein, was man auch gut daran erkennen kann, dass nicht mehr getauscht sondern verkauft wird, und – man glaubt es kaum, es wird sogar wieder gespart!
Was bleibt, ist einerseits die gebeutelte Arbeiterschicht, für die der Kapitalismus nach wie vor das Feindbild darstellt und der verarmte und radikalisierungsbereite Mittelstand, der sich selbst in der Gefahr sieht zu verproletarisieren. Beides wird sich in den Landtags- und Reichstagswahlergebnissen des Kreises Leonberg bis 1933 widerspiegeln.