Geheimer Baurat Dr. Kapp von Gültstein
Am 19. ds. Mts. verschied zu Stuttgart nach langem schwerem Leiden im Alter von 67 Jahren Geh. Baurat Dr. Ing. h. c. Otto Kapp von Gültstein.
Der Verstorbene war unter der großen Zahl hervorragender Ingenieure, die dem Württemberger Land entstammen, wohl derjenige, dessen Wirkungskreis im Ausland, vor allem im Orient, auf die ausgedehntesten Gebiete sich erstreckte. Der Bau von über 3300 km Eisenbahnen mit einem Gesamtwert von etwa 615 Millionen Mark und die Ausführung der Vorarbeiten und Entwürfe für weitere 5500 km Eisenbahnen bedeutet ein Lebenswerk, das nicht leicht von einem deutschen Ingenieur erreicht sein dürfte.
Kapp war als ältestes der 11 Kinder des Schullehrers F. M. Kapp, dessen Vorfahren in Gültstein, OA. Herrenberg, lebten, zu Rottenburg am 1. August 1853 geboren, zeigte schon früh eine außergewöhnliche Begabung und große Leichtigkeit des Arbeitens bei anhaltendem Fleiß und strenger Pünktlichkeit. Die Erzählungen über die Tätigkeit des berühmten württ. Ingenieurs Wilhelm von Presset; des Miterbauers der Brennerbahn und der dem Baron von Hirsch konzessionierten Orientbahn, dessen Bruder mit Kapps Vater befreundet war, entdeckte schon frühe in ihm den Wunsch, Ingenieur zu werden. Er bezog noch nicht 17jährig die Bauingenieurabteilung des Polytechnikums Stuttgart, das er nach nur 6 Semestern Studiums unterbrochen durch den Dienst als Einjähriger mit sehr gutem Examen verließ. Neben den technischen Studien hatten ihn besonders Kunst und Literatur angezogen und der eifrige Besuch des Theaters hatte ihm sogar eine zeitlang den Gedanken nahegelegt, Schauspieler zu werden, ein Gedanke, den er auf den Rat seines Vaters fällen ließ. Er trat nun für ein Jahr in den Staatsdienst bei den Eisenbahnbauämtern Herrenberg und Dornstetten, welchen die Ausarbeitung der Entwürfe für die Linie Böblingen — Freudenstadt oblag. Im August 1875 erfolgte auf seine Meldung die Berufung zu den Hafenbauten nach Wilhelmshaven.
Damit hatte Kapp den Weg betreten, der ihn für immer aus der Enge des heimatlichen Staatsdienstes herausführte und ihm den Zugang zu seiner weiteren Laufbahn öffnete. In Wilhelmshaven war er mit Projektierungen auf den Bureaus und als Regierungsbauführer mit ausgedehnten Erdarbeiten beschäftigt. Der Herbst 1877 führte ihn für einige Monate nach Stuttgart, wo er sein Examen als Regierungsbaumeister mit Auszeichnung bestand. Wenngleich die ausgedehnten Beziehungen, die er in Marinekreisen anknüpfte, ihm viel Anregung boten, Beziehungen, die später sich als sehr nützlich für ihn erweisen sollten, so drängte ihn die Eintönigkeit der Aufgaben doch, sich ein neues Tätigkeitsfeld zu suchen. Er trat im Jahr 1880 mit einer holländischen Gesellschaft zusammen, die große Projekte für Eindeichungen und Gewinnung von Ländereien in Oldenburg betreiben wollte, die sich aber zerschlugen. Er wandte sich, gestützt auf Empfehlungen aus Wilhelmshaven, nach Paris, wo er durch das Comtoir d’escompte zunächst als Zeichner auf dem Bureau der serbischen Bahnen in Belgrad Verwendung fand. Schon nach 2 Monaten wurde er zum Bureauchef ernannt. Unter seinen 30 Kollegen, denen er vorgesetzt war, befand sich kein Deutscher. Neben einigen Österreichern und Ungarn waren es nur Franzosen und Belgier. Aber schon im Frühjahr 1882 kam das Unternehmen in finanzielle Schwierigkeiten und sämtliche Ingenieure, auch Kapp, wurden entlassen.
Kapp wandte sich dann nach Konstantinopel, wo er bei dem Kommandanten: des deutschen Kriegsschiffes Loreley Aufnahme fand und in die Kreise der deutschen Reformer eingeführt wurde. In den Sommermonaten arbeitete er für eine deutsche Finanzgruppe, die sich für die Konzessionierung der Bagdadbahn interessierte, ein Gutachten üben die Presselschen Pläne aus. Inzwischen war der Bau der serbischen Bahn wieder aufgenommen und Kapp trat als Ingenieur en chef bei der Bahngesellschaft wieder ein. Generalunternehmer war die Firma Ph. Vitali, Regie generale des chemins de fer et travaux publics Paris, zu dessen Chef Vitali Kapp in die engsten persönlichen Beziehungen trat. Eine Verbindung, die bis zum Ausbruch des Krieges 1914 aufrecht erhalten blieb und sich immer enger gestaltete.
Kapp baute bis 1887 als Ingenieur en chef die serbischen Bahnen Belgrad — Zibefdje, Plana — Semendria, Nisch — Pirot — Zaribrod, Brania — Zibefdje. In diese Zeit fällt auch seine Berufung der Firma Krupp-Essen, die Kapp nach China senden wollte, was er aber ablehnte. Im Jahr 1888 baute Kapp als Ingenieur en chef den Kanal von Korinth. In den Jahren 1889 bis 1899 baute Kapp als Baudirektor seiner Gesellschaft die von derselben in der Asiatischen und Europäischen Türkei ausgeführten Eisenbahnen und zwar die Linien Ismid — Angora, Saloniki — Monastir, Saloniki — Dedeagatsch und Alaschehir — Afionkarahissar. Die 550 km lange Linie Ismid — Angora war der deutschen Bank konzessioniert und ursprünglich als Stammlinie der Bagdadbahn gedacht, während später die Linie über Karanbissar — Adana nach Aleppo ausgeführt wurde. Unter den Mitarbeitern, die Kapp zur Ausführung dieser Bahnen nach Konstantinopel zog, befanden sich auch mehrere württ. Ingenieure, darunter der Baurat Alfred Gädertz, der nachmalige Erbauer der Schantungbahn und der Otavibahn, und Karl Schwend, nachmaliger Professor für Brückenbau an der Techn. Hochschule in Stuttgart.
Die Jahre 1899—1900 brachten Kapp nochmals näher in Verbindung mit den deutschen Eisenbahnbestrebungen im Orient, er wurde technisches Mitglied und Vertreter der franz. Gruppe der von der deutschen Bank ausgesandten Mission zur Feststellung der Trasse der Bagdadbahn.
In den Jahren 1901 bis 1914 baute Kapp als oberster Leiter die von der Regie generale ausgeführten Eisenbahnen in Syrien: Rayak — Homs — Aleppo, und Homs — Tripolis, in Anatolien Soma-Panderma und in China Laokai-Yünanfu (Yünan). Dazu traten in diesen Jahren umfassende Vorarbeiten mit tacheometrischen Geländeaufnahmen und Projekten in Syrien und Palästina, in Mazedonien und Albanien, in Nordostanatolien. In den Jahren 1901, 1905 und 1906 traten hinzu Studien und Inspektionsreisen für die Hedjas (Mekka)-Bahn im Auftrag des Sultans betreffs Organisation des Baues und die Inspektion der Bauarbeiten dieser Bahn. Im Jahr 1906 bis 1907 führte Kapp Studien aus in der Kohlenregion von Heraklea — Zunguldak am Schwarzen Meer und für eine Eisenbahn dort. 1911 und 1912 wurden Vorarbeiten für die Assanierungsarbeiten in der Ebene von Skutari ausgeführt, Korrektion des Drin und der Bonjana, bei gleichzeitiger Tieferlegung des Spiegels des Sees von Skutari.
Der Kriegsausbruch überraschte Kapp bei seinen Arbeiten in Nordostanatolien und nur mit Mühe gelang es ihm, zu Schiff durch das Schwarze Meer zu entkommen. Die Aufregungen dieser Zeit wirkten auf den starken, bis dahin ganz gesunden Mann derart, daß er ernstem Kranksein verfiel, in deren Folge ihm ein Bein amputiert werden mußte. So führte er die letzten Jahre ein zurückgezogenes, einsames Leben in seiner Villa in Stuttgart und in den Sommermonaten in seinem Schloß in Gültstein. Er mußte noch den herben Schmerz erleben, daß gegen Ende des Krieges der einzige Sohn, der ihm von dreien geblieben war, als Fliegeroffizier vor dem Feinde fiel.
Kapps hervorragende Erfolge in seiner erstaunlich ausgedehnten Tätigkeit sind neben seiner natürlichen Begabung und seinem eisernen Fleiß dem großartigen Organisationstalent, das ihn auszeichnete, zuzuschreiben und seiner rücksichtslosen Energie bei Verfolgung; der angestrebten Ziele, die manchmal bis zur Härte ging. Die höchsten Anforderungen, die er an sich selbst stellte, stellte er auch an seine Mitarbeiter. Dazu kam ein kluges Abwägen für das Erreichbare und Notwendige und ein rasches Erkennen des Zweckmäßigen. So kam es, daß er bei seinen Bauten in der Regel erheblich unter den Kostenanschlägen blieb, besonders da, wo er Entwürfe, die von anderer Seite aufgestellt waren, zu übernehmen und umzugestalten hatte. Dabei verlor sich Kapp keineswegs in seine dienstliche Aufgaben, sondern hatte einen offenen Sinn und auch eine offene Hand, wo es galt, das Deutschtum, insbesondere in Konstantinopel zu unterstützen. Die Erbauung des deutschen Gesellschaftshauses Teutonia in Konstantinopel und die Erstellung der deutschen Schule daselbst sind sein Werk. Er wußte, die Mittel dafür flüssig zu machen und kargte auch nicht mit finanzieller Unterstützung von seiner Seite. An äußeren Ehrungen hat es ihm nicht gefehlt. Die Technische Hochschule Stuttgart ernannte ihn zum Doktor Ing. ehrenhalber. Im Jahr 1905 wurde er unter Verleihung des Namens Kapp von Gültstein für sich und seine Nachkommen in den Adelsstand des Königreichs Württemberg versetzt. Auch war er Ehrenbürger seiner Heimatgemeinde Gültstein und Ehrenmitglied verschiedener wissenschaftlicher Vereine. Kapp war seit 1888 verheiratet mit Olga von Kronheim, Tochter des preuss. Obersten von Kronheim. Von den 4 Kindern, die sie ihm schenkte, sind zwei im Kindesalter in Konstantinopel gestorben. Seine Frau ist ihm nach längerem Kranksein im Jahre 1912 in den Tod vorausgegangen. Er hinterläßt nur eine Tochter, verheiratete Gräfin Beroldingen.
Während Kapp seinen. Wohnsitz von 1889 bis 1898 in Konstantinopel hatte, verlegte er alsdann seinen Wohnsitz in seine Villa am Eugensplatz in Stuttgart, wohin seine Frau mit den Kindern des Klimas und der Erziehung wegen schon einige Jahre vorher übergesiedelt war. Wenn Kapp, den seine ausgedehnten Reisen beinahe das ganze Jahr von zu Hause fernhielten, auf ein ruhiges Familienleben verzichten mußte, so hat der frühe Tod seiner Gattin und von drei Kindern und die frühe Heirat seiner einzigen Tochter ihm auch nach Einstellung der Reisen dieses Glück versagt. Ein besonderer Schmerz war für ihn der brüske Abbruch der nicht nur dienstlichen, sondern bis dahin herzlichen und freundschaftlichen Beziehungen zu den Männern der Regie generale bei Ausbruch des Krieges.
Kapp ist mit vielen bedeutenden Männern und Frauen in nähere Verbindung getreten, mit einer größeren Zahl derselben blieb er bis zu seinem Ende in treuer Freundschaft verbunden; es sei unter ihnen nur der im Felde verstorbene Generalfeldmarschall von der Goltz, der seinen Bahnbauten das allergrößte Interesse entgegenbrachte, und der König von Bulgarien genannt, der Kapp sehr zugetan war und in manchen Dingen sich seinen Rat erbat.
Bis in die letzten Lebenstage behielt er seine geistige Frische und sein treffendes Urteil; die Schmach des Vaterlandes bewegte ihn tief. An die Stelle der früheren Strenge trat eine ausgeglichene Milde gegen jedermann. Sein immer schwerer werdendes Leiden, das ihn seit langem an den Stuhl und das Bett band und ihm das Lesen versagte, ertrug er mit Heroismus und Geduld.
Er hat in seiner unfreiwilligen Musezeit aus seinen regelmäßig geführten Tagebüchern, die mit vielen feinen Skizzen von seiner Hand geschmückt sind, seine Lebenserinnerungen zusammengestellt.
Quelle: Nachruf aus dem Schwäbischen Merkur vom 22. Oktober 1920, wieder abgedruckt in: „Aus Schönbuch und Gäu“, Beilage des Böblinger Boten, 1/1956.