Die Stiftskirche von Herrenberg
Autor: Helmut Maier
Wahrzeichen, Krönung und Schmuck der Stadt Herrenberg ist die vor 700 Jahren erbaute, prachtvolle Stiftskirche, die ihre Vollendung vor rund 500 Jahren erlebte. Ihre Geschichte ist aber auch die Geschichte einer lebenslangen Bedrohung. Der Berghang, eine aufgefächerte Kante des Gipskeupers, bewegt sich und wandert auf die Stadt zu. Gipsauslaugungen, Hangzerreißungen, Hohlräume lassen den Berg absinken. Er nimmt die Kirche mit, verformt sie. Der schwere Turm, er wiegt 8.000 Tonnen, senkt sich Jahr für Jahr ein Millimeter mehr als der Chor. Ein besonderes Sanierungskonzept will der Kirche helfen, auch weiterhin mit dem wandernden Berg zu leben. Hilfe für 100 oder 200 Jahre – dies ist das Ziel der Fachingenieure. Eine beispiellose Rettungsaktion liegt mittlerweile hinter ihr. Nach umfangreichen Sicherungs- und Sanierungsmaßnahmen konnte die Herrenberger Stiftskirche am 5. Dezember 1982, nach fast zehnjähriger Renovierung, wieder geweiht werden.
1276 ist Baubeginn für das Westwerk und die Langhausmauern. 1284 sind sie vollendet. 1289 bis 1293 werden Chor und Nordsakristei gebaut. 200 Jahre dient die Kirche so den Herrenbergern als Gotteshaus. 1475 wird das erste Geschoss des Nordturms errichtet. Deshalb müssen je eine Säule im Turm und in der mittleren Turmarkade aufgestellt werden.
Eberhard im Bart führt 1481 im Stift Herrenberg die „Brüder vom gemeinsamen Leben“ anstelle der weltlichen Chorherren ein. Sie vollenden 1493 die Schiffsarkaden, das Langhaus und die Turmgewölbe. Zwei achteckige Türme bekrönen das Westwerk.
Wenige Jahre später beginnt der Leidensweg des Bauwerks: Aus der Baugeschichte wird eine Sanierungsgeschichte. Jede Generation ist dabei, zu flicken, zu renovieren. 1747 besteht Einsturzgefahr. 1749 werden die beiden achteckigen Fachwerktürme abgebrochen. Es entsteht der neue Turmabschluss mit durchgehender Glockenstube, geschweiften Walben und der heutigen Zwiebelkuppel. 1799 werden die Turmgewölbe und das Turmsüdfenster ausgebrochen. Eine weitere steinerne Rundsäule wird eingebaut. 1870 herrscht größte Gefahr durch Neigung der Ostwand des Westwerks: 300 000 Zentner Mauerwerk drohen, die Häuser hinter dem Rathaus zu verschütten.
1886 bis 1890 erfolgt eine große durchgreifende Sanierung durch Baumeister Christian Friedrich Leins, verbunden mit einer durchgreifenden Innenrestaurierung. 1963 bricht ein Balken im Treppenhaus. Ein großer Steinsplitter stürzt während eines Nachmittagsgottesdienstes von der Turmostwand ins Schiff. Dies ist Anlass zu durchgreifenden Sicherungs- und Sanierungsmaßnahmen. Am 31. Oktober 1971 wird die Kirche geschlossen.
Wahrzeichen der Stadt Herrenberg: Die 700 Jahre alte Stiftskirche
Zehn Jahre dauert es, bis die Sanierung abgeschlossen ist. Die Erneuerung hat nicht allein nur die konstruktive Sicherung zum Inhalt. Ziel ist es, ein Konzept zu finden, das die Belange des evangelischen Gottesdienstes, der Architektur und der Standsicherheit des Bauwerks ausgewogen berücksichtigt. Der Raum selbst gibt hierzu den Schlüssel: Die wiedergewonnene Halle vermittelt für die um Altar und Kanzel versammelte Gemeinde ein besonderes Erlebnis von Weite und Geborgenheit, von Stille und Erhabenheit. Dieses Raumerlebnis wird gesteigert durch die Öffnung zum Turm, zur früheren Pfalzgrafenempore und die Einbeziehung des hochliegenden Chors. Heute befinden sich nebeneinander spätgotische Architektur und Plastik, Fenster aus dem 19. Jahrhundert, Altartisch und Gestühl aus der Gegenwart.
Mit der Sanierung ist auch eine Innenrenovierung erfolgt, die den ursprünglichen Bauzustand der Kirche vor 500 Jahren wiedergibt. … Zwei Arkadenreihen gliedern den Raum in drei Schiffe zu je sechs Jochen, in ein weites Mittelschiff und schmale Seitenschiffe. Die Pfeilerreihen tragen Netzgewölbe in ornamentaler Ausformung. Die Schlusssteine, 18 in jedem Schiff, zeigen Motive aus dem Leben Jesu, die Mutter Gottes, Heilige der Kirche und Wappen, auf der Südseite die vier Evangelisten.
Der neue Altar, von Franz Bucher 1982 geschaffen, der Taufstein von 1472, als ältestes Kunstwerk der Kirche, und die Steinkanzel von Meister Hanselmann aus den Jahren 1503/04 bilden eine Einheit inmitten der Kirche. Die bedeutende Steinkanzel ist eine der schönsten spätgotischen Kanzeln im Land und zeigt die Patronin der Kirche, die Mutter Gottes im Strahlenkranz auf einer Mondsichel stehend. Rechts und links von ihr die Kirchenväter. Ein dreifach gegliederter Staffeltrakt führt zum Triumphbogen hinein in den Chor. Die Brüder vom gemeinsamen Leben (1481 – 1517) ließen von dem Herrenberger Meister Heinrich Schickardt, dem Älteren, 1517 ein neues Chorgestühl schaffen und von dem Maler Jörg Ratgeb, 1519 für den Hochaltar neue Flügel malen.
Der Altar wurde 1890 nach Stuttgart verkauft. An den beiden Rückwänden des Chorgestühls ist das Glaubensbekenntnis dargestellt: Jesus Christus eröffnet eine Reihe von 24 Gestalten, paarweise zwölf Apostel und zwölf Könige und Propheten. Die Apostel tragen die Sätze des Credo. Diese werden begleitet von Worten aus den Psalmen und Weissagungen der Männer aus dem Alten Bund.
An den Betpulten, Seiten und Pultwangen sind Motive des Alten und Neuen Testaments vorgestellt, bezogen auf Gottvater, Jesus Christus und den Heiligen Geist. Die 104 Schnitzfiguren des Chorgestühls bildeten mit dem früheren Hochaltar von Jörg Ratgeb eine ikonographische Einheit. Der Altar selbst zeigt auf seiner großen Schauseite das erste Abendmahl, die Geißelung und Verspottung Jesu, die Kreuzigung und die Auferstehung. Im geschlossenen Zustand die Verabschiedung der Apostel und in der dritten Wandlung Mariä Empfängnis und die Beschneidung Jesu. Die Figurengruppe des Schreins fehlt.
Beim Verkauf des Altars hat 1890 der Stuttgarter Akademieprofessor, Jakob Grünenwald, den Entwurf zu dem Glasbild „segnender Christus“ im Chormittelfenster geschaffen. Die gotischen Fenster in Chor und Langhaus begegnen uns in großer Vielfalt sowohl im Steinmaßwerk als auch in der Farbgestaltung von 1890. Vom Chor aus wird der Blick frei durch die Halle der Bürgerkirche hinein in die Turmempore mit ihrer Rosette in der Westwand. Nach alten Befunden ist der zwölfzackige Stern im Maßwerk 1982 neu geschaffen worden. Die Felder sind von Anne-Dore Kunz mit dem Motiv des himmlischen Jerusalems aus Offb 21 gestaltet. …
Der Blick von der Turmempore hinein in die Kirche eröffnet einen Blick in die Großartigkeit der gotischen Hallen. Hier beginnt auch der Aufstieg auf den Turm, von dem aus eine herrliche Rundsicht gegeben ist.
Matthias Merians Kupferstich von Herrenberg aus dem Jahre 1643. Die mittelalterliche Doppelturmfassade der Stiftskirche ist gut zu erkennen (Stadtarchiv Herrenberg)
Quelle: „Denkmale in der Nachbarschaft – gesehen und besucht im Kreis Böblingen“. Röhm Verlag Sindelfingen 1990 .
Der Text wurde gekürzt
Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung/Böblinger Zeitung und des Autors
Literaturhinweise:
Helmut Maier
Stiftskirche Herrenberg
Erschienen in der Reihe der „Kleinen Kunstführer“ (Nr. 912) im Schnell & Steiner – Verlag, Regensburg 1999 (6. Auflage).
Roman Janssen/Harald Müller-Baur (Hrsg.
Die Stiftskirche in Herrenberg 1293 – 1993
Herrenberg 1993 (= Herrenberger Historische Schriften 5)
Artikel zur Herrenberger Stiftskirche bei Wikipedia
Glockenmuseum Stiftskirche Herrenberg
Stadt Herrenberg