Magstadt war eine regionale Hochburg der württembergischen Korsettweberei
Die Weberei und die Politik
Autor: Klaus Philippscheck
Die Webereigeschichte Magstadts ist ein Thema, das einige überraschende Aspekte bietet. Angefangen damit, dass 1856 in Magstadt eine große Korsettweberei erstellt wurde, und zwar durch einen adeligen französischen Offizier. Dieses für den kleinen Handwerker- und Bauernort aufregende Geschehnis ist auch ein Zeugnis dessen, wie es damals wirtschaftlich im Königreich Württemberg aussah.
Mit der Einrichtung der Centralstelle für Handel und Gewerbe 1848 zeigte sich der neue Versuch, zum Beispiel durch konsequente Spezialisierung den industriellen Vorsprung anderer Länder aufzuholen. Der Leiter der damaligen „Centralstelle“, Ferdinand Steinbeis, war dabei offensichtlich sehr erfolgreich gewesen, beispielsweise auch durch die Abwerbung des französischen Offiziers d’Ambly nach Württemberg.
Andererseits zeigte sich Magstadt als ein Ort, der durch seine damalige gute verkehrstechnische Lage zwischen Stuttgart und Calw und durch seine sehr hohe Zahl risikobereiter Baumwollweber für neue Unternehmen interessant war. Das Ortsarchiv weist über 100 Namen selbstständiger Weber im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts auf. Dies lässt auf eine arme, aber fleißige und disziplinierte Handwerkerschaft schließen.
Der Franzose d‘ Ambly baut in der heutigen Alten Stuttgarter Straße eine große Fabrik, in der Korsetten gewebt werden, die den berühmten französischen Corselets Konkurrenz machen sollen. Auch wenn d’Ambly ökonomisch scheitert, war die Qualität der neuen Produkte so gut, dass andere, international erfolgreiche Unternehmer nachstoßen. In wenigen Jahren werden in Magstadt drei weitere Korsettfabriken gebaut, die Namen tragen, die in der württembergischen Industriegeschichte berühmt sind: Ottenheimer, Rosenthal, Guttmann und Einstein.
Die Fabrik der Firma Hirsch, Gutmann & Cie in der Maichinger Straße wurde später zur Magstadter Badeanstalt umgebaut. (Bild: Fritz Heimberger, 800 Jahre Magstadt, Stuttgart 1997, S. 173)
Diese Namen zeigen, dass Magstadt eines der Produktionszentren für die aus Jebenhausen bei Göppingen stammenden jüdischen Fabrikantenfamilien geworden war. Diese waren mit ihren aufwendig hergestellten, teuren Korsetten vor allem auf dem amerikanischen Markt so erfolgreich, dass die Korsetten zum wichtigsten Exportgut Württembergs aufstiegen.Die Herstellung der Korsettenkörper fand an komplizierten Webstühlen statt, die sich kaum ein Weber leisten konnte. Daher holte der Unternehmer die Weber meist in sein Fabrikgebäude, das mit diesen Stühlen ausgestattet ist. Zum Beispiel in die Fabrik der Firma Hirsch, Gutmann & Cie, die später zur Magstadter Badeanstalt umgebaut wird. Um 1880 sehen wir mit über 200 Korsettwebern die erste klassische Fabrikarbeiterschaft einer Ortschaft im Oberamt Böblingen. Das hat Folgen, die den Magstadter Pfarrbericht vom “verderblichen Fabrikwesen“ sprechen lässt, wodurch die Magstadter einen „zum Widerspruch geneigten Sinn“ entwickeln würden.
Maßgeblichen Anteil daran hatte der Korsettweber Jacob Roller, der eine der wichtigsten politischen Figuren unserer Region wurde. Unter dauernder polizeilicher Überwachung baute er unermüdlich gewerkschaftliche und sozialdemokratische Strukturen auf, durch die Magstadt zu einem ganz wichtigen Motor der demokratischen Entwicklung im Oberamt Böblingen wurde.
Die ersten Kämpfe entwickelten sich, als die Korsettproduktion, vor allem durch die Erhöhung der amerikanischen Zölle, fast völlig zusammenbrach. So war Magstadt in die Mühlen internationaler Turbulenzen geraten: der Preis für die Modernisierung der württembergischen Industrie.
Von der Textilindustrie blieb nur eine mechanische Strumpfstrickerei (Firma Entreß) zurück. So war Magstadt zum Industrieort geworden, obwohl der Anstoß dafür, die Korsettindustrie, verschwunden war. Die ehemaligen vier Fabrikgebäude (Alte Stuttgarter Straße 36 und 39, Firma Beisser in der Weilemer Straße und Badeanstalt Schmidt in der Maichinger Straße) aber stehen noch immer!
Typisches Korsett aus dem Jahre 1905 im Katalog des Kaufhauses „La Samaritaine“ in Paris. Dieselben Modelle wurden auch in Württemberg hergestellt. (Foto: Wikimedia Commons/Public domain)
Erstveröffentlichung: Sindelfinger Zeitung, 3. Dezember 2002
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Sindelfinger Zeitung.
Der Autor, Klaus Phlippscheck, war Lehrer in Sindelfingen und gehört zu den Mitbegründern des zeitreise-BB-Projektes. Seine Interessensschwerpunkte sind die Sindelfinger Stadtgeschichte, insbesondere die Webereigeschichte, sowie die Wiederentdeckung vergessener Sindelfinger Persönlichkeiten. Daneben arbeitete er auch zur Geschichte der Mühlen und der Grenzsteine im Landkreis BB.
Literaturhinweis:
Fritz Heimberger: 800 Jahre Magstadt. Bearbeitet von Heidrun Hofacker und Fritz Oechslen, Stuttgart, WEGRAhistorik-Verlag, 1997, S. 139-149.