Otto Mertlik erinnert sich an seine Zeit als Kriegsgefangener auf dem Ehemaligen Flughafengelände (EFG) in Böblingen
Wer Mädels guckte, riskierte einen Schuss
Autor: Michael Stürm
Böblingen nach dem Krieg: Der Weltbrand hat seine Spuren hinterlassen. Zerbombte Erde, eine Stadt und ihre Bevölkerung am Boden. Otto Mertlik verbindet andere Erinnerungen mit diesem Ort und dieser Zeit. Wenn der mittlerweile 84-Jährige an das Oberamtsstädtchen denkt, fühlt er sich wie neu geboren.
Schuld ist ein Gelände, bei dem der heutigen Generation in erster Linie Gewerbeansiedlung, Steuermillionen und Zukunft einfällt. Otto Mertlik machte als Kriegsgefangener US-Panzer und Army-Fahrzeuge auf dem Ehemaligen Flughafengelände (EFG) flott. Zigtausende Kriegsgefangene auf einem Haufen, 23 Mann ein Brot, Krankheit und Entbehrung. „Schlimmer kann es nicht mehr kommen“, dachte sich der 26-Jährige damals. Der Krieg hatte den jungen Sudetendeutschen von der Hölle in die Hölle befördert: Gefangenenlager Heilbronn. Bloß weg hier, lautete die Devise. Dass die Amerikaner Fachleute suchten, die sich mit Fahrzeugen auskennen, war das große Glück des Automechanikers Otto Mertlik. Männer wie er wurden gebraucht und befanden sich umgehend auf der Ladefläche eines Lkw, der sie in die Ungewissheit transportierte.
Nach einer abenteuerlichen Fahrt durch das von Bomben schwer gezeichnete Stuttgart landete der Trupp auf dem ehemaligen Landesflughafen in Böblingen, der von den Amerikanern zu einem riesigen Reparaturwerk für militärisches Gerät umfunktioniert worden war. Mitten drin, von Stacheldraht umzäunt: ein mehrstöckiges Gebäude, in dem die Firma Klemm einmal ihre Flugzeuge zusammengebaut hatte. Für Otto Mertlik und seine Gefangenenkameraden sollte dieses Gemäuer ein Jahr lang der Lebensmittelpunkt werden.
Nach den Erfahrungen in Heilbronn war der Name für das Domizil schnell kreiert: „Klemm-Hotel“ nannten Mertlik und seine Schicksalsgenossen das Gemäuer, in dem sich Strohmatratze an Strohmatratze aneinander reihte und eine Zentralheizung für Wärme sorgte. Bis es so weit war, mussten die Häftlinge allerdings erst einmal anpacken: „Sämtliche Werkzeuge“, erinnert sich Otto Mertlik, „flogen vom zweiten und dritten Stock auf die Straße.“
Dann ging es an die richtige Arbeit. Die wartete 50 000-fach auf dem Gelände. „Panzer, Dodge, Jeep, Lkw“, erzählt Otto Mertlik, „standen in 1000er-Gruppen bereit.“ Material, das den Krieg mal besser, mal schlechter überstanden hatte und nun von den Gefangenen in den ehemaligen Flugzeughallen wieder auf Vordermann gebracht werden sollte. Für manchen Blechrest kam das Ende auch direkt vor Ort. „Was nicht mehr zu retten oder überzählig war, wurde direkt in die Bombentrichter geschoben“, weiß Mertlik. „Da sind wir ein paar Mal mit dem Panzer drüber gefahren, dann war nichts mehr zu sehen. Jede Menge Material“ verberge sich seither auf diesem Gelände, schmunzelt der Mann mit dem schlohweißen Haar.
Die Amerikaner waren zufrieden mit den Fertigkeiten ihrer Zwangsmitarbeiter. „Wenn du den Deutschen eine Blechbüchse in die Hand gibst, dann machen die einen Panzer draus“, habe ein geflügeltes Wort auf dem EFG geheißen. Dahinter verbarg sich harte Arbeit, die erst ein Ende hatte, wenn um 20 Uhr im Hotel Klemm ein Pfiff ertönte: Licht aus, Zapfenstreich.
Dennoch ist Otto Mertlik auch heute noch höchst beeindruckt von der Behandlung, die der Reparaturtrupp in Böblingen erfuhr. „Die haben uns alle aufgepäppelt“, lobt er die Amerikaner, „sogar medizinische Versorgung gab’s.“ Kein Pardon kannten die Bewacher allerdings, wenn die Gefangenen den Panzern auf der Suche nach dort noch verborgenen Essensrationen ans Blech gingen. Wer mit Fleisch, Keksen oder Zigaretten aus diesen Feldpaketen erwischt wurde, durfte sie umgehend wieder abgeben. Wenig Gnade kannten die Wachleute auch, wenn es um die Kontaktaufnahme mit der Böblinger Bevölkerung ging. „Wenn wir den Mädels durch den Zaun gewinkt haben, schossen die Aufpasser in die Luft.“
Ganz anders war hingegen deren eigenes Verhältnis zur Böblinger Damenschaft. Zum Glück von Otto Mertlik bemächtigte einige der Ami-Chefs das Bedürfnis, sich die Namen der „Fräuleins“, mit denen sie verkehrten, in Alustangen eingravieren zu lassen. „Die haben einen regelrechten Fimmel gehabt“, amüsiert sich Otto Mertlik. Eine Eigenart, die den Gefangenen zum Graveur beförderte und aus ihm das letzte halbe Jahr einen Häftling mit Privilegierten-Status machte.
Und noch ein Besatzer-Bedürfnis verbesserte den Stand des jungen Deutschen bei seinen Bewachern. Der Uhren-Tick. Mertlik bog aus den Scheiben ausrangierter Dornier-Jagdflugzeuge Uhrengläser. Manche von den Militärs beeindruckten mit drei oder vier dieser Unikate am Handgelenk und Otto Mertlik war bei den GIs nur noch als Otto „Watchmaker“ bekannt.
Nach einem Jahr war Schluss. Hotel Klemm befand sich in Auflösung, die Freilassung stand an. Wohin, mit nichts als den Sträflingsklamotten am Leib? Das Wohnungsamt half mit Adressen weiter. Otto Mertlik wurde in die Poststraße geschickt. Dort wohnte eine alleinstehende Witwe. „Bleiben Sie halt da“, habe die ihm zu verstehen gegeben.
Otto Mertlik ging nie wieder. 1948 war Hochzeit.
Erstveröffentlichung: Kreiszeitung / Böblinger Bote vom 9. Dezember 2003
Mit freundlicher Genehmigung der Kreiszeitung / Böblinger Bote