Die Michaelskirche in Eltingen
Autor: Dr. Volker Trugenberger
Eltingen ist seit 1938, als die Nationalsozialisten die Zwangseingemeindung verfügten, ein Stadtteil von Leonberg. In diesem halben Jahrhundert hat sich das Aussehen des alten Bauerndorfes völlig verändert. Um den alten Ortskern herum sind neue Wohngebiete, Lager- und Fabrikhallen entstanden – Zeugnisse des modernen Industriezeitalters. Geradezu Symbol der neuen Zeit sind die alles überragenden Betonhochhäuser, die – auf alter Eltinger Markung errichtet – Leonbergs „Neue Stadtmitte“ prägen.
Doch Eltingen hat auch eine andere Seite: seine alte, seit einigen Jahren vom Durchgangsverkehr beruhigte „Hauptstraße“, die Carl-Schmincke-Straße, mit ihren Fachwerkhäusern aus dem 17. und 18. Jahrhundert, in einem Kunstführer als „Musterbild niederschwäbisch-ländlicher Bauformen“ bezeichnet, und seine spätgotische Michaelskirche, „eine unserer schönsten Dorfkirchen“, wie sie von einem Kunsthistoriker gerühmt wurde.
Erbaut wurde die heutige Michaelskirche gegen Ende des 15. Jahrhunderts an Stelle eines kleineren, wohl romanischen Vorgängerbaus. 1487 begann man mit den Bauarbeiten, doch erst im darauf folgenden Jahr fand die offizielle Grundsteinlegung statt, wenn man der Datierung des 1964 bei Renovierungsarbeiten gefundenen Grundsteins Glauben schenken darf. Die Gründe für diese seltsame Tatsache sind heute nicht mehr bekannt. Dafür kennen wir den Baumeister, der sein Meisterzeichen auf einem Schlussstein des Chorgewölbes hinterlassen hat: Peter von Koblenz, ein aus Werkhausen bei Koblenz stammender Steinmetz und Architekt, dem Württemberg viele Meisterwerke spätgotischer Baukunst verdankt, zum Beispiel die Klosterkirche in Blaubeuren, die Amanduskirche in Urach oder die Peterskirche in Weilheim unter Teck.
Charakteristisch für das äußere Erscheinungsbild der Eltinger Michaelskirche sind die reich mit Maßwerk verzierten Spitzbogenfenster sowie die Strebepfeiler an Chor und Langhaus. Das Langhaus ist im Vergleich zu anderen Dorfkirchen relativ gedrungen – wohl ein Zugeständnis an die örtlichen Geländeverhältnisse. Die meisten Ausstattungsgegenstände der spätgotischen Kirche, so zum Beispiel Altäre, sind im Gefolge der Reformation verloren gegangen. Erhalten geblieben sind das Kruzifix und drei hölzerne Chorgestühlgruppen, die mit ihrer Flachschnitzerei an die Chorgestühlgruppen in Leonberg und Dagersheim erinnern.
Als die Michaelskirche zwischen 1962 und 1965 einer gründlichen Renovierung unterzogen wurde, stellte man unter alten Putzschichten Wandmalereien fest, die man zum größten Teil freilegen und restaurieren konnte. Einer Inschrift, mit der sich Pfarrer, Schultheiß und die übrigen damaligen Honoratioren verewigten, können wir entnehmen, dass diese Wandmalereien 1617, also im 100. Jubiläumsjahr von Luthers Thesenanschlag, angebracht wurden. Der Maler war nach einer heute nicht mehr erhaltenen weiteren Inschrift Martin Wagner, „Bürger und Tüncher zu Leonberg“.
Ob die Eltinger darüber begeistert waren, dass der Maler außer dem württembergischen Wappen auf der Chorsüdwand auch das Leonberger Wappen anbrachte, wissen wir nicht. Gab es doch mit der benachbarten Stadt manch harte Auseinandersetzungen um Steuerfragen und Weiderechte, die dazu führten, dass die landesherrlichen Amtleute nach gemeinsamen Sitzungen der Magistrate der beiden Orte „von gutter, fridlicher Nachbarschafft wegen“ gelegentlich einen versöhnenden Umtrunk herumgehen lassen mussten.
„Eine unserer schönsten Dorfkirchen“: Die Eltinger Michaelskirche
Die Wandmalereien stellen zwei Themenkomplexe dar, zum einen das Jüngste Gericht an der Ostwand des Schiffes, links und rechts des Chorbogens, zum anderen an der Südwand des Schiffes und im Chor überlebensgroße, auf gemalten Podesten stehende Figuren, nämlich Christus und vier Apostel. Die Darstellung des Jüngsten Gerichts mit dem weit aufgerissenen Höllenrachen, einem bocksfüßigen Teufel sowie Maria und Johannes dem Täufer, die für den Sünder um Gnade bitten, ist ganz mittelalterlichen Vorbildern verhaftet.
Auch die Heiligenattribute, die die Apostelfiguren in den Händen halten (die Säge des Simon, das Schwert des Paulus, das Schermesser des Bartholomäus, das Beil des Mathias), sind der mittelalterlichen Kunst entnommen. Die Christusfigur hat die eine Hand zum Segen erhoben, in der anderen hält sie die Weltkugel mit dem Kreuz als Symbol dafür, dass Christus der Herr der Welt ist.
Der neue evangelische Glaube zeigt sich in Wagners Malereien darin, dass nicht mehr, wie in mittelalterlichen Kirchen, die bildliche Darstellung ausschließlich im Vordergrund steht, sondern dass die Heiligenfiguren gleichsam nur dazu dienen, auf wichtige Bibelworte hinzuweisen, die neben ihnen auf die Wand geschrieben sind.
Über 500 Jahre nach der Grundsteinlegung wurde die Michaelskirche um ein weiteres Kunstwerk bereichert. Die Chorfenster erhielten eine Farbverglasung, die der Künstler Walter Schimpf aus Leinfelden-Echterdingen und der Eltinger Kunstglaser Günther Anton gestalteten. Schimpf nahm bewusst Motive der mittelalterlichen Kunst auf, denen er moderne Formen verlieh. Unter anderem ist der Erzengel Michael, der Kirchenheilige, in den Fenstern dargestellt, und zwar als Bekämpfer des höllischen Drachens, als Drachentöter, aber auch als Seelenwäger im Jüngsten Gericht wie auf einem Schlussstein im Chor.
Im Mittelpunkt steht jedoch der auferstehende Christus als Zeichen dafür, dass Ostern die heilsgeschichtliche Fortsetzung des Todes am Kreuz ist, an den uns das spätmittelalterliche Kruzifix erinnert. Der Auferstandene thront wie in der Apokalypse beschrieben als Weltenherrscher, der dereinst kommen wird, das Jüngste Gericht zu halten, das uns die Wandmalereien in der Kirche so eindringlich vor Augen führen.
Die modernen Glasfenster stellen also in ihrer Thematik eine Verbindung zu der nachreformatorischen Ausmalung von 1617 und zur spätmittelalterlichen Steinmetzkunst des Peter von Koblenz her und dokumentieren damit die unveränderte Funktion des Gebäudes, das in dem nunmehr halben Jahrtausend seines Bestehens immer als Gotteshaus diente, in dem Gottes Wort verkündet wurde und wird.
Spätgotisches Maßwerkfenster und Strebepfeiler am nördlichen Langhaus
Erstveröffentlichung: Denkmale in der Nachbarschaft – gesehen und besucht im Kreis Böblingen, Röhm Verlag Sindelfingen 1990
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Sindelfinger Zeitung/Böblinger Zeitung
Literaturhinweis:
Volker Trugenberger
Die Michaelskirche in Eltinger: Kirche und Kirchgänger im Laufe der Jahrhunderte Leonberg-Eltingen, 1988
Kirchen im Landkreis Böblingen
Hrsg. Evang. Kreisbildungswerk und Kath. Bildungswerk Kreis Böblingen
Red. Fritz Heimberger, Verlag Schnell & Steiner, München/Zürich, 1990