Mühlen im Landkreis Böblingen
Oberjesingen leistete Pionierarbeit
Autorin : Brigitte Zabel-Wittoch
1921erwuchs den privaten ländlichen Mühlen Konkurrenz aus dem Kreis ihrer einstigen Kunden selbst. Jahrhundertelang hatten diese sich mit weiten Wegen zur Mühle abfinden müssen. Es gab eben nicht überall Wasser: Einige Beispiele aus dem engeren Gäu: Die Gärtringer mußten in die Mühle nach Deufringen. Von Oberjesingen und Kuppingen zur 2. Ammermühle, oder später nach Gültlingen oder Wildberg, war es ebenfalls ein weiter, beschwerlicher Weg. Die Bauern aus Deckenpfronn mußten von altersher ebenfalls hinunter in die Gültlinger Mühle. Da hatten es Mönchberg, Kayh, Tailfingen und Nebringen nach Gültstein oder Altingen noch recht bequem. Zwar waren die Müller zu Zeiten des Mahlzwangs gehalten, das Getreide mit Pferd und Wagen abzuholen und das Mehl wieder zuzufahren, aber nach Aufhebung des Mühlbanns wurde dieser Kundendienst häufig eingestellt und die Bauern mußten selbst zur Mühle fahren. Mit Ochsen- und Kuhgespannen war das eine zeitraubende Angelegenheit. Dazu kamen oft noch lange Wartezeiten. Als nach dem ersten Weltkrieg schließlich der letzte Winkel des Landes elektrifiziert war, wurden auch im Gäu zwei genossenschaftliche Mühlen – in Oberjesingen und in Mötzingen – gegründet.
Es waren indes nicht nur rein praktische Gründe, die zur Genossenschaftsgründung führten. Schon damals begann sich die Struktur der Landwirtschaft zu verändern. Die Anbaumethoden wurden verbessert, die Erträge gesteigert und in viel größerem Maße für den Markt produziert. Hatte man sich früher damit zufrieden gegeben, gerade soviel zu ernten, wie für den eigenen Bedarf und für die Abgaben an die Herrschaft nötig war, so stand jetzt der Gelderlös neben dem Eigenbedarf an erster Stelle. … An der Ertragssteigerung wiederum war die Einführung neuer Getreidearten ebenso beteiligt wie der Einsatz von Mineraldüngern. Durch gemeinschaftlichen Einkauf von Saatgut und Düngemitteln sorgten die Genossenschaften dafür, daß auch weniger bemittelte Bauern neue Sorten aussäen und ausreichend düngen konnten. Die gute Erfahrung, die man mit den Spar- und Darlehenskassenvereinen und mit dem genossenschaftlichen Warengeschäft gemacht hatte, ließ sich auch auf den gemeinschaftlichen Getreideabsatz und das Mahlen von Mehl für den eigenen Bedarf und zum Verkauf übertragen.
Die Gründungsversammlung für die Oberjesinger Mühlengenossenschaft fand im Februar 1921 statt. Der auf 500 RM festgesetzte Geschäftsanteil stellte damals eine erhebliche Investition dar. Man ging unverzüglich an die Planung und den Aufbau der Mühle. Ein Jahr später hatte die Genossenschaft bereits 120 Mitglieder. Es wurde beschlossen, neben der Müllerei den Handel mit Brotgetreide aufzunehmen. Knapp 6 Jahre nach der Fertigstellung erwies sich die vorhandene Kapazität als zu klein. Das Gebäude und die Leistung wurden auf fast das Doppelte vergrößert. 1933 wurde der erste Getreidesilo erstellt, weil die Schüttböden nicht mehr ausreichten. Beim Einbau der ersten Walzenstühle im Jahre 1938 wurde der Mühlenbau um ein Stockwerk erhöht.
Gesamtansicht der Mühle mit dem Turm und seinen drei Verarbeitungsebenen. (Foto: Getreidemühle Oberjesingen)
Eine bedeutende Bewährungsprobe bestand die Mühle im 2. Weltkrieg und den ersten Nachkriegsjahren. Der Mahlbetrieb beschränkte sich auf die Mitglieder. Hier ein Zitat aus einer Schrift der Getreidemühle Oberjesingen: »… Was die Mühle in dieser Zeit jedem Einzelnen wert war, zeigte sich nun erst richtig. Obwohl die jedem Haushalt zugestandene Vermahlungsmenge sehr gering war und nicht ausreichte, brauchte doch niemand von uns Mitgliedern und Kunden zu hungern, wofür wir heute noch unserem damaligen, allseits beliebten Obermüller Gottlob Baumann zu Dank verpflichtet sind. Völlig uneigennützig verstand er es immer wieder, die scharfen Bestimmungen des damaligen Reichsnährstandes zu umgehen, obwohl er sich damit in schwere Gefahr begab. In dieser Zeit hat sich der Mitgliederzuwachs rapid erhöht, und man sollte diese Zeiten nie vergessen.«
Die Getreidemühle Oberjesingen erlebte nach der Währungsreform einen ungewöhnlichen Aufschwung. Immer wieder wurde an- und aufgebaut, modernisiert und vor allem die Lagerkapazität erweitert. Mit dem zunehmenden Einsatz von Mähdreschern ab Ende der fünfziger Jahre kamen neue Probleme auf die Mühlen-Genossen zu. Jetzt war noch mehr Lagerkapazität und vor allem eine Getreidetrocknungsanlage gefragt. 1962 entschloß man sich (schweren Herzens wegen der damit verbundenen finanziellen Belastungen) zum Bau eines Betonsilos mit 550 t Fassungsvermögen, nicht ahnend, dass auch dieser binnen kurzem viel zu klein sein würde. 1968 kam der Bau eines weiteren Hochsilos mit 600 t, 1973 dann ein Stahlsilo für 520 t, 1978 ein zweiter Stahlsilo mit nochmals 520 t. Parallel dazu wurden die Einrichtungen zur Getreideannahme ständig erweitert, dann eine Kühlkonservierung eingebaut, die Verladezelle vergrößert, sowie Stall und Garage mehrfach verlegt.
Im April 1981 wurde die Getreidemühle Oberjesingen von einer Brandkatastrophe heimgesucht, die das Werk von Jahrzehnten in Frage stellte. Das Mühlengebäude brannte fast auf die Grundmauern nieder. Man brachte das schier Unmögliche zuwege und konnte bereits in der Ernte desselben Jahres wieder Getreide annehmen. Im Herbst stimmten die Mitglieder beinahe einstimmig dafür, auch die Mühle wieder aufzubauen. Im Juni 1983 nahm eine nun mit den allerneuesten technischen Finessen ausgestattete Mühle ihren Betrieb wieder auf.
Besonderer Wert wird vor allem auf die Belieferung der Bäckereien mit Mehl in optimaler Qualität gelegt. Daneben gibt es für den Kleinverbraucher eine ganze Palette verschiedener Mühlenprodukte auch in Kleinpackungen ab 250g.
Der Erfolg der Oberjesinger Mühle hat sicher viele Komponenten. Allerdings machen die Vorgänge auf dem EG- und Weltgetreidemarkt, die Brüsseler Beschlüsse zur Mitverantwortungsabgabe und zum Feuchtigkeitsgehalt den Genossenschaftsmüllern und ihren Lieferanten schwer zu schaffen. Und es ist noch kein Ende abzusehen. Die Zukunft wird neue Prüfungen und Probleme bringen, die von den Mühlengenossen hoffentlich so souverän gemeistert werden wie die bisherigen.
Das große Auftragsbuch der Mühle. (Foto: Klaus Philippscheck)
Quelle: „Mühlen im Gäu“, Heft 14 der Schriftenreihe „Das Gäu – Geschichte, Persönlichkeiten, Wirtschaft“, Hrsg.: Volksbank Herrenberg, 1988
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Volksbank Herrenberg-Rottenburg.
Anmerkung der Redaktion:
Die Getreidemühle Oberjesingen wird zur Zeit noch von weit über 200 Mühlen-Genossen getragen. Sie beliefert alle namhaften Handwerksbäckereien im Umkreis mit hochwertigen Mehlen. Im Mühlenladen stehen im Mittelpunkt des Verkaufs natürliche Produkte aus der eigenen Produktion; Vollwertnahrung von ausgewählten Lieferanten runden das Angebot ab.