War der Eltinger Pfarrer Verfasser der Geschichten in der Stuttgarter „Stadtglocke“?
Pfarrer Munders erfundene Sagen
Autorin: Susanne Kittelberger
Aacht Jahre nachdem Eduard Mörike Eltingen den Rücken gekehrt hatte, zog 1840 mit Wilhelm Friedrich Munder (1799-1851) wieder einmal ein neuer Bewohner in das schmucke Eltinger Pfarrhaus ein.
Munder, zuvor Pfarrer in Ochsenwang, Dürrenzimmern und Ganslosen (heute Auendorf), trat seinen Dienst in schwierigen Zeiten an. Wie im gesamten Leonberger Raum war die soziale Lage auch in Eltingen prekär und die wirtschaftliche Not drückend. Bevölkerungszuwachs, Missernten und eine anhaltend Teuerung hatten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer weit verbreiteten Armut geführt. Man musste sich schon sehr anstrengen, um sich und seine Familie durchzubringen. Viele suchten ihr Glück in der Ferne. Allein 1830 sind über 74 Menschen aus Eltingen ausgewandert.1
Nicht immer stellte Pfarrer Munder den Eltinger Bürgern in seinen Pfarrberichten ein gutes Zeugnis aus und bezeichnete sie schon mal als „sehr roh, grob, unhöflich, (…) abgeneigt gegen Höhere und Vorgesetzte, gar oft mißtrauisch, störrisch, mißgünstig“.2Doch auch Lobenswertes wusste er über sie zu berichten, zum Beispiel, dass sie den Sontags-Gottesdienst fleißig besuchten. Sehr positiv äußerte er sich im Revolutionsjahr 1848 auch über die Eltinger Pietisten, die er als „lauter stille, redliche Leute“ bezeichnete, die einen tadellosen Wandel“ führten.3
Einiges, – wenn auch nicht alles, – spricht dafür, dass Wilhelm Friedrich Munder in Eltingen neben seinen Pfarrberichten auch noch anderweitig schriftstellerisch tätig war.
In seiner 1988 erschienenen Jubiläumsschrift über die Eltinger Michaelskirche stellt uns Volker Trugenberger Pfarrer Munder jedenfalls als Autor von „romanhaften historischen Erzählungen“ vor, die er zwischen 1844 und 1848 veröffentlicht habe.4Erschienen sind die Geschichten in dem damals sehr erfolgreichen unterhaltsamen „Tag- und Nachblatt“ „Stuttgarter Stadtglocke“. Später bildeten sie den Grundstock der ab 1854/55 vielfach aufgelegten Geschichtensammlung „Württemberg wie es war und ist“.5
Pfarrhaus in Eltingen. Hier wohnte Pfarrer Wilhelm Friedrich Munder von 1840 bis zu seinem Tod 1851. (Bild: S. Kittelberger)
In der „Stadtglocke“ wurden die Fortsetzungsgeschichten als „alte Sagen“ oder Erzählungen vorgestellt, die von Generation zu Generation mündlich oder schriftlich überliefert worden seien. In Wahrheit waren die Texte allerdings frei erfunden. Am bekanntesten wurde die angebliche „Sage“ vom „Postmichel“, die mit dem Zusatz „Stuttgarter Ammenmärchen. Zeit 1496“ versehen war. Den Lesern war dies offenbar nicht immer klar und so verfestigte und verselbständigte sich die Mähr von den „alten Sagen“ – oft bis heute.
Verleger der „Stadtglocke“ war der Stuttgarter Stadtrat und Buchdrucker Johann Gottlieb Munder (1802–1870), der jüngere Bruder unseres Eltinger Pfarrers. 1886 hatte der Heimatforscher und Literaturhistoriker Julius Hartmann erstmals behauptet, nicht der Drucker Johann Gottlieb Munder, sondern sein Bruder, Pfarrer Wilhelm Friedrich, sei der Verfasser der dort abgedruckten Geschichten. Dieser Auffassung schloss sich auch Trugenberger an. Offenbar traute man einem Pfarrer in literarischer Hinsicht mehr zu als einem Buchdrucker.
Mittlerweile sind an der Zuschreibung Hartmanns jedoch wieder Zweifel aufgekommen. Vor allem der Historiker und Sagenforscher Klaus Graf favorisiert nun doch wieder dessen jüngeren Bruder, den Drucker, und verweist dabei auf eine 1844 von Johann Gottlieb Munder unter dem Titel „Poetische Versuche eines Buchdruckers in seinen Feierstunden“ herausgegebene Gedichtsammlung.6
Wer immer nun von den beiden Munder-Brüdern der Autor der Stadtglocke-Geschichten war, lässt sich wohl nicht mehr abschließend klären. Vielleicht arbeiteten die beiden ja sogar Hand in Hand und bildeten ein Autorenteam.
Interessant in unserem Zusammenhang ist jedoch der Hinweis von Klaus Graf, Munders schöpferischer Umgang mit Sprache sei später auch bei Mörike auf fruchtbaren Boden gefallen. Allein diese „bislang kaum registrierte Abhängigkeit“ sichere Munder – dem Buchdrucker oder dem Pfarrer und Nachfolger Mörikes auf dem Eltinger Pfarrsitz – ein „bescheidenes Nebenplätzchen im schwäbischen Dichter-Olymp“.7
Kopfzeile der zwischen 1844 und 1848 erschienenen „Stuttgarter Stadtglocke“. (Bild: Wikimedia Commons/public domain)
Pfarrer Wilhelm Friedrich Munder, geboren 1799 in Stuttgart, starb 1851 in Eltingen.
Sein 1802 geborener jüngerer Bruder, der liberal gesinnte Buchdrucker und Stuttgarter Stadtrat Johann Gottlieb Munder, wanderte nach der gescheiterten Revolution von 1848 im Jahr 1854 mit seiner Familie nach Amerika aus und starb 1870 in Baltimore.
Links und Literatur
Wikipedia-Eintrag zur Stuttgarter Stadtglocke
Wikipedia-Eintrag zum Postmichelbrunnen
Volker Trugenberger, Die Michaelskirche in Eltingen. Kirche und Kirchgänger im Laufe der Jahrhunderte. Hrsg: Ev. Kirchengemeinde Eltingen, Leonberg-Eltingen 1988.
Klaus Graf, Sagen rund um Stuttgart, Karlsruhe 1995; darin der Abschnitt „Erfundene Sagen: Die Stuttgarter Stadtglocke und Ihre Folgen“, S. 55-60.
Referenz
↑1 | Leonberg – Eine altwürttembergische Stadt und ihre Gemeinden im Wandel der Geschichte, Stuttgart 1992, S. 168 |
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↑2 | Volker Trugenberger, Die Michaelskirche in Eltingen. Kirche und Kirchgänger im Laufe der Jahrhunderte. Hrsg: Ev. Kirchengemeinde Eltingen, Leonberg-Eltingen 1988, S. 85. |
↑3 | V. Trugenberger, a.a.O., S. 86-87. |
↑4 | V. Tugenberger, a.a.O., S. 85 |
↑5 | Zu der 1980 erschienen Neuauflage verfasste Volker Trugenberger zusammen mit Georg Wieland auch das Vorwort. |
↑6 | Klaus Graf, Sagen rund um Stuttgart, Karlsruhe 1995; darin v.a. der Abschnitt „Erfundene Sagen: Die Stuttgarter Stadtglocke und Ihre Folgen“, S. 55-60. |
↑7 | K. Graf, a.a.O., S.58 |