Nach dem 30-jährigen Krieg (1618-1648) wurde in dem rings von katholischen Gebieten umschlossenen (Alt-)Württemberg der Pietismus heimisch. Er sieht die Bibel als Lehr- und Lebensbuch, betont stark den persönlichen, selbst verantworteten Glauben und will ein von ihm geprägtes „geheiligtes“ Leben. Die frühen Pietisten stellten daher hohe Ansprüche an sich und beeindruckten durch eine geradezu vorbildliche Lebensführung. Darüber gerieten sie in Konflikt mit dem eigenen Land. Wegen der „Sinnenbrunst“ am Herzogshof, dem sittenlosen Leben und der Verschwendung dort begannen fromme Menschen, sich von Kirche und Staat abzuwenden. Ein Zentrum dieses Denkens war die Gemeinde Mötzingen.
Hort des Widerstands
Mötzingen war lange geradezu ein Hort des Widerstandes gegen Amtskirche und Staat. Der Gemeinde es mit zuzuschreiben, dass das Gäu neben dem Bereich um Calw und dem Bottwartal eines der Zentren jenes separatistischen Pietismus galt, der sich von der Institution Kirche „separieren“ (lösen) wollte. Das lässt sich auch mit der damaligen Grenzlage Mötzingens erklären: die Gemeinde lag unmittelbar an der Landes- und Konfessionsgrenze zu Vorderösterreich und die eigenständige Entwicklung wurde noch durch das höchst komplizierte Rechtsgeflecht der feudalen Zeit begünstigt. So wurde die Gemeinde etwa als Lehen an die adligen Obervögte der Amtsstadt Herrenberg verliehen; und die konnten nach dem damaligen, vielfach verschachtelten Recht dann auch bestimmen, wer in Mötzingen Pfarrer wurde. Einige dieser Obervögte stellten kritische Fragen an Kirche und Staat und das Treiben bei Hofe und sie beriefen deshalb auch entsprechende Pfarrer nach Mötzingen, oft solche, die wegen ihrer Überzeugung von der Amtskirche entlassen worden waren.
Radikale Pietisten – Siegfried und Amalia Hedwig von Leiningen
So kaufte im Jahre 1715 der Herrenberger Forstmeister Siegfried von Leiningen Schloss und Dorf Mötzingen. Er und seine Frau Amalia Hedwig waren radikal gesinnte Pietisten. Mötzingen konnten sie nach ihren Vorstellungen gestalten und so wurde die Gemeinde eine Hochburg des separatistischen Pietismus und blieb es fast ein Jahrhundert. (Bis heute gibt es im Gäu viele Formen nebenkirchlicher Frömmigkeit, wie ein Blick in den samstäglichen Kirchenanzeiger des „Gäuboten“ belegt.)
Im frühen 18. Jahrhundert gab es allerdings in Württemberg Vieles zu kritisieren. Herzog Eberhard Ludwig – nominell Oberhaupt der Landeskirche – lebte Jahrzehnte im offenen Ehebruch mit seiner Mätresse Christiane Wilhelmine von Grävenitz, die deshalb im ganzen Land inbrünstig gehasst wurde. Der Herzog stampfte mit dem nur 14 Kilometer von Stuttgart entfernten Ludwigsburg eine neue Hauptstadt aus dem Boden, am Hofe dort wurde das Geld regelrecht verschleudert und die von frommen Pfarrern gerügte „Sinnenbrunst“ dort würde selbst heute noch auffallen. Der einfache Mann hatte aber dafür zu fronen und zu schuften.
Fromme Christen befürchteten den Weltuntergang
Das Treiben bei Hofe war derart, dass man deswegen das Gericht Gottes über Württemberg befürchteten und in pietistischen Kreisen wurde immer öfter darüber nachgedacht, ob denn wahres Christentum noch im Rahmen einer mit diesem Staat verflochtenen Kirche gelebt werden könne. Immermehr fromme Menschen grenzten sich von der in ihren Augen gottlos gewordenen weltlichen Obrigkeit ab und kehrten der eng mit ihr verbundenen Kirche den Rücken. Das bedeutete, dass sie sich von Gottesdienst und Abendmahl fern hielten, ihre Kinder selbst tauften und unterrichteten.
Das hatte dann Verhöre vor Pfarrer und Dekan zur Folge. Dabei begründeten die Radikalpietisten ihr Handeln mit aus dem Bibelstudium gewonnen Glaubensansichten. Geistliche und weltliche Obrigkeit gingen mit diesen Menschen und nicht gerade freundlich um. So verlor der reiche Gärtringer Bauer Johann Jakob Eipperle (1729 – 1797) wegen seiner Glaubensüberzeugung Hab und Gut, wurde des Landes verwiesen und starb verarmt in der Fremde. Eine Anna Maria Riethmüller aus Nufringen wurde zu einer vierwöchigen Gefängnisstrafe verurteilt, weil sie den Gottesdienst gestört haben sollte und ein Benedikt Canz aus Herrenberg büßte seine Überzeugung längere Zeit ins Zuchthaus in Ludwigsburg.
Zufluchtsort für aufmüpfige Pfarrer
Unangepasst waren aber nicht Laien, sondern auch viele Pfarrer. Auch gegen sie ging die Obrigkeit oft rigide vor. Aufmüpfige, pietistische Pfarrer, die durch eine strenge Kirchenzucht auffielen und nicht jeden zum Abendmahl zuließen, hatten mit harschen Maßnahmen der Kirchenleitung zu rechnen. Sie wurden zum Verhör beim Konsistorium einbestellt und konnten verwarnt, strafversetzt, entlassen oder des Landes verwiesen werden.
Den solchermaßen „abgeschafften Theologen“ boten Gemeinden wie Mötzingen die erwünschte Zuflucht. In Mötzingen hatte die Kirchenleitung nichts zu bestimmen. Es lag außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches wie etwa auch Sindlingen, das aus eben diesem Grund hundert Jahre später der Aufenthaltsort von Michael Hahn wurde. Daher fanden in Mötzingen lange entschieden pietistisch gesinnte Pfarrer eine neue Wirkungsstätte. Sie hatten großen Zulauf auch von auswärts und konnten so – zum Verdruss der Kirchenleitung – weiter ins Land hinein wirken. In Mötzingen selbst bildete sich unter der fürsorglichen Hand der Herrschaft von Leiningen eine separatistische Gruppe mit Verbindungen und Beziehungen zu anderen Orten, etwa nach Hochdorf.
Von Mötzingen aus konnten sich die von der Kirchenleitung entlassenen Pfarrer auch in Ruhe nach neuen Aufgaben umschauen. Sie waren begehrte Erzieher: so sind etwa Bengel, Hölderlin und Schelling nachweisbar von Radikalpietisten geprägt worden. Die Auseinandersetzungen mit der Amtskirche verloren erst an Schärfe, als die Radikalpietisten im frühen 19. Jahrhundert auswanderten und im Osten oder in die USA Gemeinden nach ihren eigenen religiösen Vorstellungen gründeten. Selbst von hier aus haben sie noch – ungewollt – gewirkt: Friedrich Engels, der mit Karl Marx den Kommunismus theoretisch begründet hat, wusste von württembergischen pietistischen Siedlungen in den USA mit Gütergemeinschaft. Sie dienten ihm als Beweis für seine Ideen einer klassenlosen Gesellschaft ohne Privateigentum.