Sindelfinger Realschule nimmt 1908 erstmals Mädchen auf
Elisabeth Dinkelacker und Hildegard Leonhardt waren 1908 die ersten Sindelfinger Realschülerinnen. Ihre Aufnahme in die höhere Schule glich einem revolutionären Streich: Rektor Andreas Kälber nahm die Mädchen in seine Schule auf – ohne Einverständnis der städtischen Gremien.
Andreas Kälber wurde 1906 der Nachfolger von Rektor Julius Hartranft in der Sindelfinger Realschule im heutigen Ernst-Schäfer-Haus. Damals war die höhere Schule eine reine Jungenschule. Auf dem Papier zumindest war der Realschulbesuch von Mädchen aber seit 1901 möglich. Allerdings, so sah es ein Erlass vom 03. Oktober 1901 vor, musste über die Zulassung von Mädchen in jedem einzelnen Fall die Ministerialabeilung für die höheren Schulen entscheiden, nachdem Rektorat und der Lehrerkonvent angehört worden waren.
Rektor Andreas Kälber setzte sich 1908 darüber hinweg. Er nahm Elisabeth Dinkelacker und Hildegard Leonhardt – die Namen sind im Gemeinderatsprotokoll aus dem Sindelfinger Stadtarchiv vermerkt – in seine Realschule auf. Aber ohne Einverständnis der städtischen Gremien. Was ihn zu diesem Schritt bewog, darüber lässt sich nur spekulieren. Der Gemeinderat aber lehnt in seiner Sitzung im April 1908 die Aufnahme von Mädchen erst einmal ab – mit Rücksicht auf die Privattöchterschule. Unbegründet war diese Sorge nicht: Die höhere Privattöchterschule musste 1912 wegen mangelnden Zuspruchs geschlossen werden.
Der frischgebackene Rektor, Andreas Kälber (links), mit Bruder Heinrich (liegend) und Frau Charlotte im Jahre 1906 auf Besuch beim Dichter Christian Wagner in Warmbronn (Foto: Christian-Wagner-Gesellschaft)
Doch der Sindelfinger Gemeinderat vollzog Wochen später einen Kurswechsel, wie aus dem Protokoll vom 30. Mai hervorgeht. Mädchen in der Realschule wurden zugelassen. Aber nur unter bestimmten Bedingungen: Der Unterricht der Knaben dürfe nicht gestört, 30 Reichsmark jährlich sei an Schulgeld zu entrichten und auf Grund des Raummangels hätten die Knaben Vorzug vor den Mädchen. Mädchen, so heißt es im Gemeinderatsprotokoll, dürfen „nur insoweit zugelassen werden, als nach Befriedigung der Raumbedürfnisse der Knaben noch übriger Raum vorhanden ist“. Der Erlass vom Oktober 1901 blieb gültig: Die Aufnahme von Schülerinnen musste von Fall zu Fall entschieden werden. Diese Haltung ist ein Spiegelbild der damaligen Zeit. …
Bildung für Mädchen wird Thema
Bildung für Mädchen wurde allerdings zunehmend ein Thema. Am 18. April 1908 trafen sich im Böblinger Hotel Zimmermann Familienväter, „um Stellung zu nehmen, in welcher Art den hiesigen Mädchen eine vollständigere Ausbildung in den fremden Sprachen und höheren Lehrfächern zuteil werden könnte“. Das Lehrerkonvent des Realprogymnasiums sei einer Aufnahme von Mädchen als Vollschülerinnen nicht abgeneigt, hieß es. Einig war man sich auch, dass Mädchen das gleiche Bildungsrecht wie Jungen zusteht.
Zulassung auf Widerruf
Aber die Mehrheit der anwesenden Väter handelte nicht danach. Nicht als Vollschülerinnen, sondern nur als Hospitantinnen in gewissen Fächern wie Französisch, Englisch, deutsche Sprache, Klassiker und Geschichte sollten Schülerinnen am Unterricht teilnehmen dürfen. Im Oktober 1909 stimmte der Böblinger Gemeinderat jedoch dafür, „hiesige Mädchen in stets widerruflicher Weise zum Besuch des Realprogymnasiums zuzulassen und für diese das gleiche Schulgeld zu erheben, wie für die Knaben“. Allerdings musste der Bürgerausschuss dem noch zustimmen. Ob er nicht zustimmte und damit das Projekt scheiterte, ist unklar. In der Denkschrift des Sindelfinger Goldberg-Gymnasiums wird angegeben, dass erst 1912 die ersten fünf Mädchen ins Böblinger Reallyceum aufgenommen wurden – vier Jahre, nachdem bereits in Sindelfingen die ersten Schülerinnen die Schulbank in der Realschule drückten.
Erstveröffentlichung: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren. Röhm Verlag, Sindelfingen 1999.
Der Text wurde gekürzt
Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung/Böblinger Zeitung