Der 24. März 1848 – Sindelfinger lehren ihre Obrigkeit das Fürchten
Sindelfingen in den Revolutionsjahren 1848/49
Autor: Horst Zecha
Sindelfingen in der Mitte des 19. Jahrhunderts – das war eine Stadt mit 4.300 Einwohnerinnen und Einwohnern, wobei diese Zahl in den vergangenen zehn Jahren um etwa 500 zugenommen hatte.
Trotzdem beschränkte sich das Stadtgebiet im Wesentlichen auf die mittelalterliche Altstadt und die Untere und Obere Vorstadt; nach Abbruch der Stadtmauer und Einebnung des Stadtgrabens am östlichen Stadtrand war mit der Planie seit den dreißiger Jahren eine bescheidene Stadterweiterung entstanden. Nach wie vor herrschte Wohnungsnot, neben Magstadt wies Sindelfingen die höchste Wohnungsbelegungsdichte im damaligen Oberamt (Verwaltungseinheit, die den heutigen Landkreisen entspricht) Böblingen auf.
Mit dem Bau des neuen Rathauses in den Jahren 1843 – 45 hatten die Sindelfinger einen mutigen Sprung aus dem mittelalterlichen Stadtkern hinaus gewagt, wobei das für damalige Verhältnisse sehr großzügig angelegte Gebäude Stadtschultheiß Conz prompt den Vorwurf der Prunksucht einbrachte. Ihren Lebensunterhalt verdiente der ganz überwiegende Teil der Sindelfinger Bevölkerung im Doppelerwerb von Landwirtschaft und Hausweberei. Die Industrialisierung steckte noch in den ersten Ansätzen, die Seidenfabrikanten Haid und Spring aus Stuttgart betrieben in der heutigen Leonberger Straße 2 die einzige Fabrik im Ort.
„Es gibt wenig Reiche, aber auch wenig Bettler“, heißt es über Sindelfingen in der Oberamtsbeschreibung von 1850. Trotz der außerordentlich bescheidenen Lebensweise hatte sich die soziale Situation aber auch in Sindelfingen zur Mitte des letzten Jahrhunderts zugespitzt. Zum zunehmenden Industrialisierungsdruck, dem die rückständigen Handweber ausgesetzt waren, kam nun auch noch die Krise im landwirtschaftlichen Bereich. Sichtbares Zeichen zunehmender Not sind die seit 1847 stark ansteigenden Auswandererzahlen.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Unruhen von 1848/49 auch in der Kleinstadt Sindelfingen ihren Widerhall fanden. Nach dem Sturz des französischen Königs im Februar 1848 sprang der revolutionäre Funke von Frankreich schnell auf das benachbarte Baden und das Königreich Württemberg über. Nachdem eine große Stuttgarter Bürgerversammlung am 02. März grundlegende Forderungen an den König zusammengestellt hatte, schlossen sich die bürgerlichen Kollegien der Oberamtsstadt Böblingen am 04. März diesem Schreiben an. In Sindelfingen hingegen war man der Auffassung, dass man Wünsche und Beschwerden in einer eigenen Note formulieren sollte. Zu diesem Zweck trafen sich am 08. März Vertreter zahlreicher Oberamtsorte auf dem Sindelfinger Rathaus und verfassten eine Erklärung, die anschließend von 1.914 (!) Personen unterzeichnet wurde. Die 16 Punkte entsprachen im Wesentlichen den Forderungen, die in den Tagen zuvor auch in Stuttgart und Mannheim aufgestellt worden waren. Im Mittelpunkt standen die Einführung eines gesamtdeutschen Parlaments, Pressefreiheit, die Abschaffung des stehenden Heeres zu Gunsten von Bürgermilizen, weitergehende kommunale Selbstständigkeit sowie die Abschaffung von Feudalabgaben und feudalen Jagdrechten.
Angesichts der sich zuspitzenden Lage trafen sich Stadtschultheiß, Stadtrat und Bürgerausschuss am 14. März zu einer Sondersitzung, in der beschlossen wurde, Sicherheitswachen einzurichten, um so der Aufforderung des Königs, Ruhe und Gehorsam gegen die Obrigkeit zu gewährleisten, Folge zu leisten.
Fackelzug zu Ehren der Frankfurter Volksmänner im Jahre 1848. (© Landesmedienzentrum Baden-Württemberg / Dieter Jäger. Signatur LMZ025710)
Dieser Plan scheint aber eher noch zur Eskalation der Ereignisse beigetragen zu haben, denn bei einer für den 24. März 1848 einberufenen Bürgerversammlung kam es zur offenen Konfrontation von Teilen der Sindelfinger Bevölkerung mit dem Stadtschultheißen und den bürgerlichen Gremien. Dabei richtete sich der Zorn zum einen gegen allgemeine Maßnahmen, die der Schultheiß zwar verkündete, die aber nicht in seiner Verantwortung lagen. Zum anderen gab es aber offensichtlich auch eine große Unzufriedenheit von Teilen der Bevölkerung mit den Männern, die in Sindelfingen selbst die politische Verantwortung inne hatten. Dies war neben dem Stadtschultheißen Conz der 15-köpfige Stadtrat und der aus 16 Deputierten bestehende Bürgerausschuss. Die Stadträte mussten nach zweijähriger Amtszeit lediglich einmal wiedergewählt werden, um dann auf Lebenszeit zu amtieren, was der Bürgerschaft letztendlich kaum demokratische Kontrolle über dieses Gremium ermöglichte. Der Bürgerausschuss dagegen wurde jedes Jahr zur Hälfte neu gewählt, sodass die Amtszeit der Deputierten nur zwei Jahre betrug.
Bei der Bürgerversammlung am 24. März jedenfalls wurden Forderungen nach dem Rücktritt der Stadträte laut. Nachdem Stadtschultheiß Conz die chaotische Veranstaltung aufgelöst hatte, erklärten in der anschließenden Sitzung der bürgerlichen Gremien unter dem Eindruck der Ereignisse tatsächlich alle Mitglieder des Bürgerausschusses und zwölf der 15 Stadträte ihren Rücktritt. Stadtschultheiß Conz ließ sich von den Mitgliedern der bürgerlichen Kollegien letztendlich doch noch von diesem Schritt abbringen.
Wenig später wurde von einem Unbekannten auf das Amtszimmer des Stadtschultheißen geschossen. Dieser blieb unverletzt und es bleibt auch unklar, ob es sich um einen gezielten Anschlag oder um einen wahllosen Schuss in dieser allgemein angespannten Atmosphäre handelte.
Einige Zeit später erschien der Oberamtmann (vergleichbar dem heutigen Landrat) aus Böblingen in Sindelfingen, um die Gemüter zu beruhigen. Tatsächlich wurde ihm von einer Abordnung Sindelfinger Bürger erklärt, dass der „überwiegende, bessere Teil der Bürger“ wieder Herr der Lage sei und auch längst nicht alle für eine Absetzung der Stadträte plädierten.
Um die Situation weiter zu entspannen, wurden Versammlungen für die nächsten Tage verboten, aber auch von einer Bestrafung der Aufrührer vom 24. März abgesehen. Letztendlich kehrten auf Veranlassung des Oberamtes die meisten der städtischen Honoratioren und der Stadtschultheiß in ihre Ämter zurück; auch der Stadtschultheiß war bereit, sein Amt weiterzuführen, wollte sich aber bei dem „Übermaß der auf ihm ruhenden Geschäfte“ von „Nebenfunktionen“ entlasten, um sich ganz seinen eigentlichen Aufgaben widmen zu können. Acht der zehn lebenslänglich gewählten Stadträte blieben allerdings bei ihrem Rücktritt. Somit wurden Nachwahlen nötig, die im Mai 1848 stattfanden. Dabei gelang es der Gruppe, die im März den Aufruhr inszeniert hatte, immerhin etwa ein Drittel der Sitze zu erringen; nur zwei der 15 Stadträte waren nunmehr noch auf Lebenszeit gewählt.
Was bleibt als Ergebnis dieses turbulenten 24. März 1848 in Sindelfingen festzuhalten? Die kommunalpolitische Landschaft hatte sich zweifellos in Richtung einer vorsichtigen Demokratisierung verändert. Die Einrichtung der lebenslang gewählten Stadträte war faktisch abgeschafft (und wurde es auch später formal), was den Bürgern bei Wahlen größere Einflussmöglichkeiten verschaffte. Gleichzeitig begannen sich spätestens seit den Nachwahlen vom Mai in den bürgerlichen Gremien politische Richtungen herauszubilden, die wenig später in ersten politischen Vereinen als Vorläufer der späteren Parteien eine Organisationsform fanden.
Ohne Zweifel, auch die Kommunalpolitik der Kleinstadt Sindelfingen war im Frühjahr 1848 von den Ereignissen der Revolution ganz unmittelbar betroffen. Und auch im weiteren Fortgang der Ereignisse jener Jahre zeigt sich, dass Sindelfingen häufig ein recht getreues Spiegelbild der „großen Politik“ abgibt.
Erstveröffentlichung: Sindelfinger Chronik 1998
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Stadt Sindelfingen
Der Autor, Horst Zecha, ist Historiker und leitete viele Jahre das Sindelfinger Stadtarchiv und das Stadtmuseum. Heute ist er Kulturamtsleiter der Stadt Sindelfingen.
Literaturhinweis:
Barbara Otto
Stadt im Umbruch – Sindelfingen vor 150 Jahren
Begleitheft zur Ausstellung im Stadtmuseum Sindelfingen (10. 10. – 29. 11. 1998), herausgegeben vom Stadtarchiv Sindelfingen, Sindelfingen 1998
Eine ausführliche Darstellung der politischen Ereignisse der Revolutionsjahre in Sindelfingen finden Sie in:
Dr. Fritz Heimberger
Geschichte der politischen Parteien in Sindelfingen
Zeitalter des Vormärz 1820 – 1846
Jahrbuch Sindelfingen 1969, S. 368 – 386
Ders.: Geschichte der politischen Parteien in Sindelfingen
Die Revolution 1848/49. Erste Parteiorganisationen
Jahrbuch Sindelfingen 1970, S. 259 – 291