Sagen und Geschichten aus dem Landkreis Böblingen
Kaiser Otto und die Kaiserin Adelheid, seine edle Gemahlin, kehrten im Jahr 962 nach langjährigem Aufenthalt im Königreich Italia, das der Frau Adelheid Eigentum war, nach Deutschland heim. Sie reisten mit kleinem Gefolge, etlichen deutschen und lombardischen Herren und Rittern, auf der alten Rheinstraße von Konstanz her gegen Norden. Es war Sommer, um St. Johannis Tag. Die Welt schien ihnen groß und licht; um sie war tiefer Friede. Sie freuten sich von ganzem Herzen auf. das Wiedersehen mit ihren Lieben allen.
Graf Anselm von Nagold, Herr im Ammergau und zu Tübingen und Verwalter des Königsforstes Schönbuch, geleitete die Reisegesellschaft durch seinen Amtssprengel. Man hatte am Vormittag den Neckarfluß in der Tälinsfurt durchritten und traf noch am hohen Mittag auf des Königs Gutshof zu Holzgerlingen ein. Der Maier des Hofs bot Herberge und Atzung, wie es Königsrecht forderte und Dienst und Sitte es geboten. Der Kaiser hatte Gefallen an seinem herrlichen Forst gefunden, und er freute sich über Graf Anselms kluge Art und Weise, wie er sich seiner Geleitspflicht unterzog. Und da er auf dem Königshof alles wohl in Ordnung fand, so dachte er bei sich, er wolle dem Gaugrafen beim Abschied eine Gnade bewilligen. Es wurde bald wieder aufgebrochen. Der Ritt ging nordwärts, der nahen Grenze des Herzogtums Franken zu, welche die Reisenden noch am späten Abend erreichen wollten.
Wo der Wald zurücktritt, den sie eben durchquert hatten, und sich zur Rechten hin die Äcker derer zu Böblingen breiten, man heißt das Gewand dort „unter der alten Burg“, senkt sich die Straße bald in eine flache Mulde, die Hulb genannt. Dort führt der Weg über ein Bächlein, das von Abend herkommt. Jenseits des Wassers stund eine kleine Feldkapelle, der heiligen Anna geweiht, beschirmt von zwei breiten Linden in vollem Blust, um deren hohe Kronen Bienen und Hummeln spielten und summten.
Der Tag war heiß; und die Kaiserin war müde geworden und begehrte zu rasten. Man stieg von den Pferden und lagerte sich im Schatten der Linden. Bald fiel die hohe Frau in einen sanften Schlummer, darin sie träumte, sie reite auf einem weißen Zelter wieder zurück in den Wald Schönbuch; allda ersah sie zur rechten Seite einen freien Wiesenplan, durch den ein munterer, klarer Bach dahinfloß. Zwischen dem jenseitigen Waldrand und dem Ufer des Bächleins erblickte Frau Adelheid ein buntes und frohes Gewühl, wie von einem Markt oder Fest. Plötzlich erhob sich ferner Hörnerklang und Fanfarenruf; die geschmückten und buntbewimpelten Zelte auf dem Wasen traten zu beiden Seiten zurück, wie von Geisterhand gerührt. Inmitten ward nun ein breiter weißer Weg sichtbar, auf dem sich von der Höhe herab ein großer Reiterzug feierlich zu Tal bewegte. An der Spitze des Zuges glaubte Frau Adelheid ihre lieben jungen Söhne, herrlich geschmückt und auf edlen Rossen, zu erkennen: zuvorderst Otto, den künftigen König, zu seiner Linken und etwas rückwärts Brun, seinen Bruder. Da erhob sich ein Wind und trug die Mutter, sanft schwebend, den lachenden und ihr zuwinkenden Söhnen entgegen. Sie breitete ihre Arme aus. Die Fanfarenrufe tönten jubelnder und viel näher -, da erwachte die Schläferin.
Es waren nämlich zur selben Stunde fränkische Edle, Boten des jungen Königs Otto und von diesem ausgesandt, das Herrscherpaar einzuholen, an dem Rastplatz eingetroffen. Im Lärm ihrer Ankunft hatte Frau Adelheids Traum sein Ende gefunden. Die Ritter neigten sich ehrerbietig vor dem Kaiser; vor Frau Adelheid beugten sie das Knie.
Da die Boten gemeldet hatten, daß die jungen Fürsten unfern die Eltern zu treffen gedächten, so gebot der Kaiser, ungesäumt aufzubrechen. Unterwegs erfuhr er vom Traum seiner Gemahlin. Er lächelte, wußte er nun doch, welchen Gnadenerweis er dem Grafen Anselm tun wollte.
Auf der Höhe vor dem Dorf Dagersheim, ehe die Rheinstraße zur Schwippefurt hinableitet, stand zu beiden Seiten des Wegs mannshoch reifendes Korn. Drüber her leuchteten blühende Mohnfelder im Glast des Mittags. Tiefblau stand der Sommerhimmel hinter weißen Wolkenschiffen.
Da erhob sich ein leichter Wind. Er strich über die Ackerbreiten hin, und es neigten sich die abertausend körnerschweren Ähren und die blütengekrönten Häupter des Mohns vor dem edlen Herrscherpaare, das die Herrlichkeit des Reiches trug. Und eine Lerche stieg jubilierend himmelwärts.
Da ward die Kaiserin Adelheid, die Mutter vieler Königreiche, in ihrem Herzen froh, und sie erschaute eine lichte Zukunft.
Auf dem Berg vor dem Dorf Ihingen nahm Graf Anselm Abschied, denn da war die Grenze seiner Grafschaft. Der Kaiser verlieh ihm dort das Recht, auf dem Wiesenplan, den Frau Adelheid im Traum erlebt hatte, einen Jahrmarkt zu halten; an des Königs freier und offener Straße. Als seine Gemahlin den Platz geschildert, den sie geschaut, da wußte Graf Anselm, dies könne nur der Ort im Schönbuchwald sein, den sie im Volk „zu Mauren“ hießen. Es ward daher künftighin allda ein Markt gehalten alle Jahre drei Tage lang zu des Kaisers Gedächtnis. Graf Anselm erhob einen gewichtigen Marktzoll und gedachte dabei dankbar der Milde seines edlen Kaisers und Herrn.
Noch am Abend dieses Tages schloß Frau Adelheid ihre beiden Söhne mütterlich in die Arme. Dies geschah aber nahe bei dem Flecken Heimsheim, jenseits der Grenze Frankens, auf einem Bühl an des Königs Straße, den sie um deswillen den Ottenbühl heißen bis auf unsere Tage.
Kaiser Otto I und seine Ehefrau Adelheid, Königin von Italien im Hohen Chor des Meißner Doms. Die Stifterfiguren aus dem 13. Jahrhundert werden der Werkstatt des Naumburger Meisters zugeschrieben. (Ausschnitt aus einem Foto von: Bonnlander / Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 4.0) (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)
Erstveröffentlichung: Der Häseltrog – Sagen und Geschichten aus Schönbuch und Gäu. Bearbeitet von Eberhard Benz, Böblingen 1950. (Veröffentlichungen des Heimatgeschichtsvereins für Schönbuch und Gäu e.V. – Bd. 1)
Mit freundlicher Genehmigung des Heimatgeschichtsverein für Schönbuch und Gäu e.V.