Als in Sindelfingen Maulbeerbäume gepflanzt wurden / Ehrgeizige Pläne für die Stadt der Weberei
Die Seidenraupenzucht scheiterte
Autor: Klaus Philippscheck
Wer neben dem Sindelfinger Webschulgebäude, also von der Seite des Domo durch die ehemalige Klostermauer in das Klostergartengelände tritt, stößt auf einen kleinen, noch von Holzstützen gehaltenen Maulbeerbaum. Doch dieses unscheinbare Bäumchen symbolisiert ein eigenwilliges Kapitel Sindelfinger Gewerbegeschichte.
Die Stadt Sindelfingen versuchte schon im vorigen Jahrhundert, für die in sehr bescheidenen Umständen lebenden Sindelfinger Bürger Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Da schon seit dem 18. Jahrhundert die Weberei in Sindelfingen außergewöhnlich stark vertreten war, schien sich ab 1830 eine weitere, ergänzende Gewerbechance aufzutun: Das Königreich Württemberg propagierte „als Nebenbeschäftigung und für Personen, die sonst zu keiner Arbeit tauglich sind„, die Seidenraupenzucht. Neben einem sozialen Aspekt war der Grund für diese Aktivität, die hohen Ausgaben für den Seidenimport zu drücken.
Auch Sindelfingen war Versuchsfeld. Stadtschultheiß Breuning engagierte sich stark, und schon 1830 wurden auf dem „Gottesacker“ (im Gebiet des jetzigen Alten Friedhofs) und in Privatgärten 3000 Maulbeerbäume gesetzt. Die Blätter des Weißen Maulbeerbaums sind die einzige Nahrung der Seidenspinner-Raupe, deren Kokon bis heute für die Seidenproduktion gebraucht wird.
Zwar scheiterte dieser erste Versuch: Es gelang nicht, „bei den hiesigen Einwohnern Sinn für die Seidenzucht zu wecken„, die „ausgebreitete Weberey“ und der Torfstich gäben besseren Verdienst. Aber schon 1840 wird ein weiterer Versuch gemacht. Immerhin hatte sich inzwischen eine der größten württembergischen Seidenwebereien in Sindelfingen angesiedelt. Die Stuttgarter Firma Haid & Spring hatte das unfertige Cholera-Krankenhaus Leonberger Straße 2 gekauft und zur ersten Sindelfinger Fabrik ausgebaut. An über 40 Jacquard-Seidenwebstühlen wurden schwarze Seidenstoffe gewoben.
1840 veranlasste der neue Stadtschultheiß Conz den jüdischen Bürger Auerbach aus Calw, in der Sindelfinger Baumschule mit Maulbeerbäumen zu experimentieren. Aber das Urteil, zum Beispiel der Firma Haid & Spring, fiel leider vernichtend aus: Die hiesige Gegend sei zu rau und windig, man werde weiterhin Seide aus südlicheren Ländern, vor allem Italien, kaufen.
Das Maulbeerbäumchen im ehemaligen Sindelfinger Klostergarten (Foto: Klaus Philippscheck)
So wurde für lange Zeit die Seidenraupenzucht in Sindelfingen eingestellt, obwohl hier zeitweise immerhin 20 Prozent aller württembergischen Seidenwebstühle standen. Die Handels- und Gewerbekammer Stuttgart lobte die Sindelfinger Seidenqualität und die gute Ausbildung. Sigmund Sax, Gaupp & Thieler, Oetinger sind zum Beispiel die Namen renommierter Stuttgarter Seidenwebereien, die in Sindelfingen produzierten.
Überraschenderweise wird aber Sindelfingen in unserem Jahrhundert noch einmal mit dem Seidenbau konfrontiert. 1931 schlägt ein Herr Molitor aus Korntal dem Gemeinderat vor, Sindelfingen zur deutschen „Seidenbauzentrale“ zu machen. Mit Unterstützung des Landesgewerbeamtes und eines Sindelfinger „Seidenbauvereins“ wird nun eine Genossenschaft mit 50-Mark-Anteilen gegründet. Sofort werden südlich des Friedhofs, in den Gärten an der Bleichmühlestraße, Maulbeerbäume gepflanzt.
Die Genossenschaft bekommt leerstehende Räume im Schulgebäude am Rathaus zur Verfügung gestellt, wo die Seidenraupenzucht in großem Stil beginnen sollte. Ein junges Sindelfinger Mädchen hatte jeden Morgen frische Maulbeerbaumblätter zu rupfen und damit die Raupen zu füttern. Wieder sollte diese Seidenraupenzucht als Nebenverdienst in den Krisenzeiten 1931/32 auch in den hiesigen gewärmten Küchen betrieben werden. Die „Seidenbauzentrale“ wollte für Weiterverarbeitung und Vermarktung sorgen, hochfliegende Pläne sahen für Sindelfingen ein weiteres industrielles Standbein voraus. Und dies alles, obwohl bekannt sein musste, dass der Seidenbau ein ungeheuer schwieriges Kapitel ist, das hochspezialisierte Fachleute braucht.
So wurde ab 1934 klar, dass sich die Sindelfinger Hoffnungen nicht erfüllen würden. Die Räume am Rathausplatz standen leer, die Kokons wurden nicht mehr abgenommen, Rechnungen wurden nicht mehr bezahlt. 1935 wird die Genossenschaft liquidiert, nun schien das Kapitel Seidenbau endgültig begraben zu sein.
Aber 1937 wird dieses Gewerbe durch Erlass des württembergischen Wirtschaftsministeriums doch noch einmal massiv gefördert: Diesmal ohne Kosten-Nutzung-Rechnung, denn es geht wohl um die versteckte Kriegsvorbereitung des Dritten Reichs: Seidenstoffe für Fallschirme werden gebraucht, und es scheint so, als ob die Räume im alten Schulhaus noch einmal aktiviert wurden. Wieder wurden Maulbeerbäume gepflanzt, diesmal in den Eichholz-Gärten beim Kurhaus und wieder wurden Seidenraupen-Kokons produziert.
So symbolisiert das kleine Maulbeerbäumchen im Klostergarten ein wechselhaftes, interessantes Kapitel Sindelfinger Gewerbegeschichte. Es scheint zu gedeihen, denn es trägt die typischen kleinen Früchte des Weißen Maulbeerbaums; klein und erdbeerartig. Die Blätter des Bäumchens aber werden im Augenblick nicht gebraucht.
Bericht über die Sindelfinger Seidenraupenzucht in den Württembergischen Jahrbüchern
Erstveröffentlichung: Sindelfinger Zeitung, 20.8.1999
Der Autor, Klaus Phlippscheck, war Lehrer in Sindelfingen und gehört zu den Mitbegründern des zeitreise-BB-Projektes. Seine Interessensschwerpunkte sind die Sindelfinger Stadtgeschichte, insbesondere die Webereigeschichte, sowie die Wiederentdeckung vergessener Sindelfinger Persönlichkeiten. Daneben arbeitete er auch zur Geschichte der Mühlen und der Grenzsteine im Landkreis BB.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Sindelfinger Zeitung/Böblinger Zeitung