Grenzsteine erzählen Geschichte(n)
Das „ABC-Thäle“ – Sindelfinger Kuriosität tief im Glemswald
Autor: Klaus Philippscheck
Der Blick auf den Sindelfinger Stadtplan zeigt eine liebenswürdige Kuriosität. Dort, wo sich Böblingen und Sindelfingen mit ihrem Wald am weitesten nach Osten erstrecken – einen Steinwurf von Musberg entfernt – fließt als kleiner Grenzbach der Mahdenbach. Hier finden wir, fast direkt an einer unter Naturschutz stehenden Waldwiese, die kuriose Ortsbezeichnung „ABC-Thäle“.
Der Name „ABC-Thäle“ nimmt Bezug auf eine eigenartige Tatsache. In diesem 1,1 Kilometer langen Talabschnitt sind die Grenzsteine zwischen Böblingen und Sindelfingen nämlich nicht nummeriert, sondern ihnen sind die Buchstaben A bis Z eingemeißelt.
Die topographische Karte zeigt uns die Lage mitten im Staatswald – sowohl auf Sindelfinger wie auf Böblinger Seite. Das ABC-Tal zieht sich allerdings in das Gebiet des ehemaligen Panzerübungsgeländes der amerikanischen Streitkräfte hinein. Es liegt also im Staatswald, der in einem großen Teil seit dem Dritten Reich und seinen frühen militärischen Planungen nicht dem Land, sondern dem Deutschen Reich, jetzt der Bundesrepublik Deutschland, gehört. Der dortige Wald auf Sindelfinger Markung gehört dem Staat erst nach einem Tausch mit der stadtnahen Winterhalde, also seit etwa 50 Jahren. Deshalb finden wir auf der Sindelfinger Seite der alten Grenzsteine nicht die „herrschaftliche“ Hirschstange, sondern das Sindelfinger „Fleckenzeichen“. Dies ist seit uralten Zeiten ein Kreuz – vielleicht haben die Sindelfinger dieses Zeichen irgendwann im späten Mittelalter von ihrem Chorherrenstift übernommen.
Dass wir es hier mit einem schmalen, aber versumpften Bachlauf zu tun haben, ist die Ursache für die ABC-Kennzeichnung. Im Fundus des Hauptstaatsarchivs in Stuttgart befindet sich eine Karte des Sindelfinger Waldes von 1681. Auf der ist die Sindelfinger Nummerierung ab dem Stein 1 an der Hinterweiler „Propstey“ gut zu erkennen. Aber kurz hinter der weiter oben erwähnten Waldwiese hört diese Nummerierung mit dem Stein 244 auf und es folgt der obere Mahdenbach, an dem aber kein einziger Stein eingezeichnet steht. Vielleicht war den beiden Städten der Aufwand für die Steinsetzung in diesem sehr sumpfigen Gelände zu groß und der Bachverlauf sollte diese Grenze kennzeichnen. Jedenfalls erst dort, wo die Grenze nach etwa einem Kilometer aus dem Mahdenbachtal nach Norden abbiegt, geht die Nummerierung mit Stein 245 weiter.
Der dreihundertjährige Stein „O“ unweit des Bachs im Sindelfinger ABC-Thäle. Der Stein trägt auch ein Kreuz, das Sindelfinger Fleckenzeichen. (Foto: Klaus Philippscheck)
Bald nach 1681 muss man sich dann allerdings doch entschieden haben, dieses Grenzstück zwischen dem Herrschaftswald und dem damaligen Sindelfinger „Kaufwald“ noch zu versteinen. Denn Grenzungenauigkeiten wurden in der Zeit des Absolutismus zunehmend als nicht hinnehmbar empfunden und Schritt um Schritt beseitigt. So zog man jetzt eine fast gerade Grenzlinie quer über die malerischen Mäanderschleifen des Bachverlaufs hinweg, an der nun die Steine gesetzt werden sollten. Aber wie könnte jetzt eine Nummerierung dieser Steine aussehen? Sie mussten ja zwischen die schon vorhandenen Nummern 244 und 245 gesetzt werden und brauchten deshalb eine eigene, neue Kennzeichnung. Und da wird nun ein kluger Kopf der Untergängerkommission darauf gestoßen sein, dass man für diesen Grenzabschnitt ungefähr 25 Steine brauche und dass sich deshalb das lateinische Alphabet als eine eingeschobene „Sondernummerierung“ anbieten würde. Das hat offensichtlich eingeleuchtet – und so hat man auf der Sindelfinger Seite Buchstaben in die Steine gemeißelt. Und zwar von A bis Z, allerdings ohne das vorletzte Y, weil man tatsächlich nur 25 Steine brauchte. Und schon im Jahr 1717 hieß es deshalb im dicken Sindelfinger Protokollbuch der sogenannten „Untergangsrevision“: „Ein großer quadrater Stein, hat zur Rechten ein Creutz. Linkhs eine Hirschstangen und vor sich hin Litteram A.“ So begann die Beschreibung des nunmehr „ABC-Thäle“ genannten Waldtals. Ein Böblinger Gegenstück zu diesem Protokoll gibt es übrigens nicht. Das ist leider den fürchterlichen Kriegszerstörungen zum Opfer gefallen.
Von den Steinen, die damals gesetzt worden sind, stehen tatsächlich noch eine ganze Reihe. Einige davon sind ziemlich angeschlagen, weil sie seit nunmehr 300 Jahren in der Feuchtigkeit dieses Waldtales stehen. Andere sind aber gut erhalten, weil die Sindelfinger in einer großen Aktion noch 1924 fehlende Grenzsteine neu gesetzt haben – auch im abgelegenen Mahdenbachtal. Der städtische Geometer Mack hatte mit einem Gehilfen die Vermessungsaufgaben übernommen. Als Ergebnis wurden sehr schöne neue Steine hergestellt: In genormter, quadratischer Form, mit der Jahreszahl 1924, den jeweiligen Fleckenzeichen und den Nummerierungen. Die Steine wurden von der Firma Gebrüder Zimmermann aus Dettenhausen (im Schönbuch) bezogen. Der Dettenhausener Stubensandstein galt von alters her als der beste weit und breit. Ein unbeschrifteter Stein kostete damals 4,50 Reichsmark.
Topographische Karte des Sindelfinger ABC-Thäles. (TK 7220 und 7320 © Landesamt für Geoinformation; www.lgl-bw.de). (Bearbeitung: Klaus Philippscheck)
Die Jahreszahl und die klassischen Fleckenzeichen wurden vom Sindelfinger Steinmetz Friedrich Seiz mit großer Präzision und geradezu liebevoll eingehauen. Für das Mahdenbachtal kam zur neuen Böblinger Nummerierung das Sindelfinger „ABC“ dazu. Wie wichtig diese Aktion noch 1924 genommen wurde, sehen wir auch daran, dass zur Einschätzung problematischer Situationen sogar Sindelfinger Gemeinderäte mit dem Geometer unterwegs waren – wie uns das Protokoll erzählt.
Die meisten älteren Steine im Mahdenbachtal befinden sich allerdings nicht mehr in gutem Zustand. Zum Teil drohen sie in den Bach zu kippen oder sind gar schon hineingestürzt – der feuchte Untergrund ist einfach zu unsicher. Und so steht heutzutage das Sindelfinger Vermessungsamt, das dem Thema Grenzsteine dankenswerterweise große Aufmerksamkeit widmet, vor einem typischen Dilemma: Lohnt es sich, mit großem Aufwand diese historischen Steine zu retten, die keine juristische Funktion mehr haben und die auch für interessierte Grenzsteinsucher nur sehr schwierig zu erreichen sind? Oder muss da eine fotografische Dokumentation für die Zukunft reichen?
Es hat nun mit dem schwierigen Gelände zu tun, dass in diesem Waldtal noch eine weitere Besonderheit zu finden ist. Der erwähnte Sindelfinger Geometer Paul Mack hat nämlich 1924 auf die schwierige Situation des sumpfigen, nicht begehbaren Untergrunds mit einem eigenwilligen, neuen System reagiert: Er hat in sicherem Abstand vom quirligen Bach jeweils zwei gegenüberstehende Steine gesetzt, die mit Pfeilen auf ihrem Kopf aufeinander verweisen. Die Grenze zwischen Böblingen und Sindelfingen verläuft zentimetergenau in der Mitte zwischen diesen beiden Steinen. Diese Doppelsteine stellen eine aufwendige, aber sichere Methode dar, in diesem heiklen, fernen Gelände die Grenze zu kennzeichnen. Immerhin ist das Mahdenbachtal über acht Kilometer Weglinie vom Sindelfinger Rathaus entfernt. Wie perfekt aber Macks Idee war, ist daran gut zu erkennen, dass diese Steine noch heute, nach 90 Jahren, unverrückt an ihrem Ort stehen. Genauso, wie die Stadtverwaltung der Vergangenheit das wollte – und dafür viel Geld ausgegeben hat. Heutzutage erfreuen wir uns an diesen schon historisch gewordenen kleinen Denkmälern.
Die neuen „C-Steine“ mit dem Sindelfinger Kreuz stehen sich am Bach gegenüber. (Foto: Klaus Philippscheck)
Die Markungsgrenze stellte früher eine geradezu heilige Grenze dar. So war die Sicherung dieser Grenze und ihrer Grenzzeichen von alters her eine wichtige Aufgabe der Dorf- oder Stadtgemeinde. Diese Aufgabe hat man Renovation (= „Auffrischung“) genannt. Die sogenannten „Untergänger“ hatten dabei ein wichtiges und angesehenes Amt, denn der Untergang diente der genauen Kontrolle der Grenze und der Entscheidung bei einzelnen konkreten Grenzstreitigkeiten. Die Untergänger mussten sogar einen speziellen Eid ablegen. Sie hatten darauf zu achten, dass der Grenzverlauf gut erkennbar war, dass keine Steine umgeworfen oder gar versetzt worden waren. Die Strafen für ein bewusstes, betrügerisches Versetzen von Grenzsteinen waren früher sehr hart.
In Sindelfingen war der „Untergang“ im Statutenbuch von 1534 geregelt. Ein Waldumgang fand alle 10 bis 15 Jahre statt; im Statutenbuch wird der Waldumgang vom 21. April 1541 geschildert. Nach „altem Brauch“ hatten damals teilgenommen: „Der gemaind Bürgermeister, 6 vom Gericht und 3 aus der Gemaind, sowie aus der Bürgerschaft 4 Bürger und 17 Bürgersöhne.“ Dabei wurde es diesen Jungen durch Ohrfeigen oder andere Schläge „hinter die Ohren geschrieben“, sich die Lage der Grenzsteine einzuprägen. So sollte die Erinnerung an die uralten Grenzen über die Generationen erhalten bleiben.
Auch Sindelfingen beobachtete bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Grenzsteine, obwohl diese längst ihre ursprüngliche Funktion verloren hatten. Sie galten aber immer noch als steinerne Symbole für den Stolz und die Selbstständigkeit der Stadt, die gepflegt werden sollten. Manche Städte pflegen die Tradition der Untergänge noch heute: Die Sindelfingen freundschaftlich verbundene Schweizer Stadt Schaffhausen veranstaltet mit dem Landkreis Konstanz zur Kontrolle ihrer Grenzsteine seit 1894 alle sechs Jahre einen solchen Untergang.
Aus dem Renovationsprotokoll von 1717 der Beginn der Beschreibung des „so titulierten“ ABC-Tals. (Bild: Stadtarchiv Sindelfingen)
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Der Autor, Klaus Phlippscheck, war Lehrer in Sindelfingen und gehört zu den Mitbegründern des zeitreise-BB-Projektes. Seine Interessensschwerpunkte sind die Sindelfinger Stadtgeschichte, insbesondere die Webereigeschichte, sowie die Wiederentdeckung vergessener Sindelfinger Persönlichkeiten. Daneben arbeitete er auch zur Geschichte der Mühlen und der Grenzsteine im Landkreis BB.