Pionierwerk der Waldenbucher Stadtgeschichte
Die Springer’sche Chronik
Autorin: Susanne Schmidt
An der großen Straße, welche in Richtung von Nord nach Süd den Schönbuchwald durchschneidet und die Hauptsitze schwäbischen Geisteslebens, Stuttgart und Tübingen, miteinander verbindet, liegt genau in deren Mitte auf einem Hügel, welcher von den westlichen Höhen aus beinahe freistehend in den Taleinschnitt des Flüßchens Aich vorgeschoben ist, die Stadt Waldenbuch.
Sie hat ein Schloß, eine Stadtmauer, einen Marktplatz, einen Stadtschultheiß und einen Stadtpfarrer, aber trotz all dieser hervorragenden Eigenschaften wird sie der Geograph und Statistiker zu den „kleinen unter den Tausenden von Juda“ rechnen müssen, weil sie einschließlich der Parzellen keine 2000 Einwohner zählt, Handel wie Gewerbe nur mäßig entwickelt sind und auch die Eisenbahn ihren Weg noch nicht dorthin gefunden hat, sondern bloß als Abschlagszahlung neuestens eine Kraft Wagenverbindung mit Stuttgart und Tübingen besteht.
Wir wollen uns daher mit der bescheideneren Bezeichnung Städtchen, oder, wie es in den alten Urkunden heißt, Stättlen, begnügen.1 (…)
Ansicht Waldenbuchs aus der Zeit der Jahrhundertwende auf der ersten Seite der Springer’schen Chronik
Mit dieser Beschreibung, beginnt Otto Springer (1845-1910) seine 1912 veröffentlichte “Geschichte der altwürttembergischen Landstadt Waldenbuch“. Der Oberstleutnant a. D. hat die Drucklegung seines Geschichtsbuches im Stuttgarter Kohlhammer-Verlag selbst nicht mehr miterlebt. Der “begeisterte Geschichtsfreund„ und “Nachkomme einer angesehenen Waldenbucher Familie„2 war bereits 1910 verstorben. Seine eigenhändigen Aufzeichnungen schließen 1871 im Jahr der Deutschen Reichsgründung.
Bis ins Jahr 1962 war die “Springersche Chronik“ die einzig verfügbare zusammenhängende Darstellung der Waldenbucher Stadtgeschichte. Die damals von der Stadt beim Rektor der Waldenbucher Schule Richard Reichert in Auftrag gegebene neue „Chronik der Stadt Waldenbuch“3 war im wesentlichen eine ergänzende Neufassung von Springers gründlicher historischer Pionierarbeit.
Auf Initiative der Freien Wählervereinigung Waldenbuch wurde das längst vergriffene und „jahrzehntelang nur als Hausbuch in alteingesessenen Waldenbucher Familien„ weitergegebene Buch 1986 unverändert fotomechanisch nachgedruckt. Für die ältere Geschichte Waldenbuchs ist die Springersche Chronik immer noch eine unverzichtbare Quelle, zumal – wie der später in Springers Fußstapfen getretene Waldenbucher Stadtgeschichtler Hans-Joachim Ziegler richtig bemerkte, – Springer ein „ebenso guter Historiker wie Erzähler„4 war.
Geschichte der altwürttembergischen Landstadt Waldenbuch von Otto Springer, Stuttgart 1912. Unveränderter Nachdruck aus dem Jahre 1986
Ludwig Uhland und Waldenbuch
Ludwig Uhland und Waldenbuch
Mehrfach erwähnt Otto Springer den zum sog. Schwäbischen Dichterkreis zählenden Schriftsteller, Politiker und Gelehrten Ludwig Uhland, der auf dem Weg von Tübingen nach Stuttgart immer wieder in Waldenbuch Einkehr hielt.
Der Weg von Tübingen nach Stuttgart beträgt gute sieben Stunden, auf welche auch sieben Berge, Bückel oder Stiche zu rechnen sind, die den wandernden Handwerksburschen und Studenten, noch mehr aber den Kutschern und Fuhrleuten schon unzählige Verwünschungen entlockt haben. In damaliger Fußgängerischer Zeit nahm ein Ludwig Uhland es nicht schwer, gute Freunde durch den Schönbuch halbwegs bis Stuttgart zu begleiten und dann nach dem Scheidetrunk wieder umzukehren. In seinem von 1810 bis 1820 geführten Tagebuch ist Waldenbuch 15mal erwähnt, wie er teils allein, teils in heiterer Gesellschaft dort verweilte, im Sommer 1819, als er in seiner Vaterstadt Tübingen glänzend zum Landtagsabgeordneten gewählt war, eine Extrapost zu nehmen und würdig dort einzuziehen. … (S. 143)
In dem schon erwähnten Tagebuch Ludwig Uhlands ist unterm 19. August 1814 verzeichnet: „Klarer sonniger Tag. Fahrt von Stuttgart nach Tübingen mit Karl Mayer und seiner Schwester Jette. Lesung meiner neuesten Gedichte in Waldenbuch„. Uhland war ein pünktlicher junger Mann, der genau die Tage aufzeichnete, an denen die Muse ihn besuchte, und so können wir mit Sicherheit feststellen, was seine damals neuesten Gedichte waren. Wie mag der treue Karl Mayer samt seiner feinsinnigen Schwester in dem traulichen Herrenstüblein des Gasthofs zu Post in Waldenbuch den zärtlichen Liebesklagen des Studenten “Als ich einst bei Salamanca…“ dann des Jägers “Als ich einstmals in den Wäldern…“ gelauscht haben, wie mögen sie entzückt gewesen sein, als sie aus dem Zyklus „Sängerliebe“, die Romanzen von Durand “Nach dem hohen Schloß von Balbi„ und von Dante “War’s ein Tor der Stadt Florenz„ usw. vernehmen durften. … (S. 148)
Aus: Otto Springer, Geschichte der altwürttembergischen Landstadt Waldenbuch, Stuttgart 1912, S. 143 und 148.
Das Waldenbucher Schloss als Militärhospital 1813-14
Im Frühjahr 1813 wurde das seit Verlegung des Forstamts leerstehende Schloß zum Militärhospital eingerichtet und bot zunächst manchem der mit dem Todeskeim in der Brust zurückgekehrten Rußländer (so wurden die Teilnehmer am russischen Feldzug vom Volke genannt) wenigstens eine stille Stätte zum Sterben. Der verlustreiche Feldzug in Sachsen (18. Oktober Schlacht bei Leipzig) sorgte bald für neue Gäste. Vom April bis Dezember starben im Waldenbucher Spital 84 württembergische Krieger, davon nur 10 an ihren Wunden, die übrigen alle an Nervenfieber, Auszehrung, Ruhr und Entkräftung. Die Genesenden scheinen bei neu erwachender Lebenslust den Mädchen des Städtchens gefährlich geworden zu sein, die mit weiblichem Scharfblick den in der männermordenden Kriegszeit gesteigerten Wert der Übrigbleibenden erkannten; der vorsichtige Kirchenkonvent aber verbot aus Veranlassung des hiesigen Militärhospitals die Lichtkärze für diesen Winter gänzlich.
Als nach der Leipziger Schlacht die französischen Heerestrümmer nach Frankreich zurückfluteten und die verbündeten Preußen, Österreicher und Russen nachströmten, wurde Monate hindurch das an der Heerstraße gelegene Waldenbuch von Durchmärschen und Einquartierungen nicht frei. Anfangs Dezember ritten die ersten Kosaken ins Städtchen; der Tübinger Lateinschüler Riecke, der nachmalige Hofkammerdirektor, Vater des Finanzministers, sah sie auf seinen Wanderungen nach Stuttgart die Anhöhen um Waldenbuch herunterreiten. (…)
Sehr wunderbar mutete namentlich Anfangs die fremdartige Erscheinung der Russen an. Ihre prächtigen Garde- und zerlumpten Linientruppen, der bärtige Kosak samt schlitzäugigen Baschkieren mit Pfeil und Bogen. Dann der treuherzige österreichische Landwehrmann und die wilden Ungarnhusaren, die begeisterten siegesfreudigen Preußen, kurz die ganze Völkerwanderung die von Ost nach West ins Frankreich hinein sich bewegte. Mit der Jahreswende 1813-14 hatten diese Heere als Rächer lang erduldeter Unbill den Krieg nach Frankreich getragen. Die bisher von Napoleon mißbrauchten Württemberger standen, mit österreichischen und russischen Truppen zum 4. Armeekorps vereint, unter ihrem geliebten Kronprinzen Wilhelm, der an den Tagen von Epinal (18.1.1814), Brienne, Sens, Monterau, Arcis sur Aube und Paris (30.3.1814), als ein edler Ritter furchtlos und treu sich bewährte. Mancher Held dieser Tage durfte seine Wunden in dem für 400 Mann eingerichteten Waldenbucher Spital ausheilen, mancher schloß dort die Augen: im Laufe des Jahrs 1814 außer 40 Württembergern auch 27 Österreicher und 14 Russen, deren fremdartige Namen wie Choßky, Hafy, Mudruck, Iwanow, Posvikoff, Zabrodin, Seraschew, Alexei, Peßmertin usw. im Waldenbucher Totenbuch die außerordentliche Zeit verewigen. Die Beerdigung machte nicht viel Umstände, man war in den langen Kriegsjahren stumpf geworden. Die Leichen wurden meist ohne Sarg und ohne Feierlichkeit in den kühlen Wald eingebettet und ein zur Beerdigung hergereister Vater erbat sich vergeblich für seinen aus Heilbronn gebürtigen Sohn eine Grabstätte auf dem Kirchhof des Städtchens. In späteren Jahre wurde übrigens über den Waldgräbern ein jetzt in Abgang gekommenes hölzernes Kreuz errichtet und die betreffende nördlich der Weilemer Landstraße gelegene Stelle heißt heute noch der „Russenkirchhof“. (…)
Eines Sonntags, während die Gemeinde zum Gottesdienst in der Kirche versammelt war, tritt eilends ein krank und elend aussehender russischer Soldat ein. Er sieht nicht rechts noch links, sondern ersteigt rasch den Altar, hinter welchem in schöner lebensgroßer Holzschnitzerei der gekreuzigte Heiland sich erhebt, umfaßt kniend den Kreuzesstamm, bedeckt die angenagelten Füße mit Küssen und bleibt so schluchzend und mit vielen Tränen längere Zeit im Gebet. Ergriffen hielt der geistliche auf der Kanzel mit der Predigt inne, und wohl mag für manchen das aus tiefem Herzen kommende Gebet des Kriegers, dessen Schmerz niemand kannte, wirksamer gewesen sein, als die beste Predigt.“ (…)
Aus: Otto Springer, Geschichte der altwürttembergischen Landstadt Waldenbuch, Stuttgart 1912, S. 145-147
Referenz
↑1 | Otto Springer: Geschichte der altwürttembergischen Landstadt Waldenbuch, Kohlhammer-Verlag Stuttgart 1912, S. 1. (Unveränderter fotomechanischer Nachdruck 1986) |
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↑2 | Vorwort zur Springerschen Chronik von 1912 von F. Hartmann |
↑3 | Richard Reichert: Chronik der Stadt Waldenbuch, herausgegeben im Auftrag der Stadtverwaltung Waldenbuch, Waldenbuch 1962 |
↑4 | Hans-Joachim Ziegler: Geschichte der sieben Stadtteile auf sieben Hügeln der Stadt Waldenbuch, Waldenbuch 1989, S. 6 |