Von alten Marksteinen, Marksteinzeugen und Untergängern in Sindelfingen
Autor: Eugen Schempp
Wie auf allen Gebieten hat sich auch bei der Vermarkung der Grenzen im Laufe der letzten Jahrhunderte manches geändert. Daß die neuen Marksteine anders aussehen als die alten und, daß häufig gar keine Steine mehr verwendet werden, sondern beispielsweise Kunststoffmarken oder Grenzbolzen, ist von geringer Bedeutung. Im Grundsatz anders geworden ist aber die darüber hinausgehende Fürsorge für die Erhaltung der Grenzen. Heute besteht diese vor allem darin, daß die Grenzpunkte auf sog. Vermessungspunkte eingemessen sind. Kommt Zweifel an der richtigen Lage eines vorhandenen Grenzzeichens auf, oder wurde ein solches entfernt, so kann es aufgrund dieser, in entsprechenden Akten bei den Vermessungsämtern verzeichneten Maßzahlen geprüft oder wiederhergestellt werden. Solche Maßzahlen gibt es in Württemberg erst seit der in den Jahren 1818 bis 1840 durchgeführten Landesvermessung. (…)
Die gewöhnlichen Marksteine entstammten früher meist der näheren Umgebung. Entlang den Gemeindegrenzen und anderen wichtigen Grenzen standen meist hohe, mit Inschriften versehene Marksteine. Sie sollten damals, als es noch keine Karten, Pläne und Maßzahlen gab, die Grenzen deutlich machen und einprägen. In Sindelfingen ist an der Grenze gegen Vaihingen ein besonders alter, von 1601 stammender Markungsgrenzstein erhalten. Er trägt als Sindelfinger Fleckenzeichen das Kreuz und auf Vaihinger Seite die Tübinger Pfalzgrafenfahne. Die Steine an den zur Herrschaft (heute Land) Württemberg gehörigen Grundstücken trugen eine Geweihstange aus dem alten Landeswappen. Sie sind besonders vom Waldteil Winterhalde bekannt, der bis in jüngste Zeit (1960) dem Staat gehörte. Aber auch an ehemaligen Wiesen des Staates blieben solche Marksteine bis in unsere Tage erhalten.
Im Handbuch für Untergangsrichter und Bau- und Feldbesichtiger in Württemberg (Tübingen 1830) beginnt der § 108 mit den Worten: „Die Hauptsache bei dem Steinsatz ist die sogenannte Verzeugung. Erst in genugsamer Entfernung anderer Leute, wenn niemand als die Untergänger anwesend sind, müssen diese den Stein verzeugen. Es werden nämlich unter den Stein oder an die Seiten desselben gewisse Merkmale gelegt, die man Zeugen nennt. Diese Zeugen bestehen nach Belieben aus Kohlen, Scherben zerschlagener Ziegel – oder anderer Steine usw.“ Sie sollten für den Fall, daß ein Stein – versehentlich oder absichtlich – entfernt worden war, seinen ursprünglichen, richtigen Standort festhalten. Das Handbuch 1830 hält zur Verzeugung (allerdings) zu einem Zeitpunkt an, in dem sie durch die eingeleitete Landesvermessung schon an Bedeutung verlor. (…)
Die Sindelfinger Art der Verzeugung bestand darin, daß man bündig mit der Unterseite des Marksteins an den Seiten, an denen Grenzen abgingen, je ein Ziegelstück stellte. Dies erfolgte gleichlaufend mit der Steinseite und in geringem Abstand. Im Fall der durchlaufenden Grenze waren es zwei, bei einem zusätzlichen seitlichen Grenzabgang drei und bei beidseitigem Grenzabgang vier Zeugen. Sie entstammten alle einem größeren Dachziegelbruchstück. Daß sie bei einer späteren Freilegung und Prüfung zusammenpaßten, war ein Hinweis auf ihre Echtheit. Jede Gemeinde hatte ihre Art der Verzeugung. Es gibt Städte und Dörfer in denen schon vor Jahrhunderten besondere Zeugen mit Inschrift und Wappen hergestellt wurden.
Grenzgänger. (Titelkupfer bei J. J. Beck: Vollständiges Recht der Gränzen und Marksteine. Nürnberg, 4. Aufl., 1754)
Die Sicherung der Vermarkung durch Zeugen hatte ihre Mängel. Vor allem bestand die Gefahr, daß die Zeugen ebenfalls verloren gingen. Deshalb versuchte man durch regelmäßige Feldbegehungen, die gesamte Vermarkung in Ordnung zu halten. Außerdem war jeder Grundstücksbesitzer verpflichtet, Abmarkungsmängel der Gemeinde zu melden. Im Sindelfinger Statutenbuch von 1526 heißt es: Item zwischen Ostern und Georgi (23. April) sollen die Untergänger samt den Bürgermeistern (Stadtpflegern) alle Marksteine des Zehnten (Gemarkung), Wald und Allmende umgehen zu beschauen. Und wo sie einen ausgefallenen Stein oder sonstigen Abgang an Eckstein(en) oder ausgestoßenen Stein an einem Gut erfinden und (der) Inhaber desselbigen Gutes das zuvor nicht eröffnet hat, dieser Inhaber soll allweg geben zu Pein (Strafe) 1 Schilling.
Besondere Aufmerksamkeit galt dem Wald, in dem damals noch der gemeinsame Besitz der Bürgerschaft gesehen wurde. Waldumgänge sollten einem größeren Kreis von Bürgern und Knaben dessen Umfangsgrenze einprägen. Das oben genannte Statutenbuch enthält dazu den folgenden Eintrag: Auf den 21. Tag Aprils Anno 1541 hat die Obrigkeit allhie zu Sindelfingen nach altem Herkommen verordnet, nachgenannte Bürger und Bürgersöhne, alt und jung, um den Wald zu gehen, die Marksteine des Waldes zu erfahren und zu erkundigen. (…) Im Anschluß sind 14 Bürger aus dem Kreis der Bürgermeister, Gerichts- und Ratsmitglieder und der sonstigen Bürgerschaft, außerdem 18 Bürgersöhne namentlich aufgeführt.
Noch ehe Karten, Pläne und Maßzahlen als Stütze des menschlichen Gedächtnisses zur Anwendung kamen, bediente man sich der Grenzbeschreibungen. Auf Blatt 89 des genannten Statutenbuchs beginnt eine Markungs-Grenzbeschreibung mit: „Sindelfinger Mark vom Böblinger Weingarten, da der Stein steht, hinaus am Böblinger und Altinger Wald bis gen Berstlach für aus von einem Stein zum andern, darnach den Pfaffensteig hinauf zwischen unserer gnädigen Herrschaft und derer von Böblingen Wald bis an Böblinger Straß …“. Knapp 200 Jahre später, bei der Markungs- und Weidgangsrenovation von 1717, geht man dann schon sehr ins Einzelne. Jeder Markstein wird genau beschrieben und ebenso die Richtung und Entfernung zum nachfolgenden Stein.
Diese Grenzbeschreibungen konnten immer nur für besonders wichtige Grenzen erstellt werden. Doch auch dafür hatten sie noch längst nicht die Qualität, die mit der Flurkarte 1 : 2500 und den Maßzahl-Aufschrieben der Landesvermessung von 1818 bis 1840 erreicht wurde.
Den mehrfach genannten Untergängern begegnen wir schon im Mittelalter. Der älteste Sindelfinger Nachweis ist von 1462 enthalten. Die Untergänger waren Personen, die in Ausübung ihres richterlichen Amtes Grundstücke zu begehen hatten. Eine Untergangssache war gegeben, wenn ein Streit über privatrechtliche Verhältnisse ohne Augenschein sich nicht entscheiden ließ, gleichwohl aber einfach war und eine kurze und summarische Verhandlung gestattete. Das Untergangsgericht war ein örtliches Gericht und bestand je nach Gemeinde aus drei bis sieben Untergängern. Neben ihrer richterlichen Tätigkeit erledigten die Untergänger alle anfallenden Vermarkungsarbeiten. 1818 ging ihr Richteramt an den Gemeinderat über, und durch die Zivilprozeßordnung von 1868 hörte das besondere Verfahren in Untergangssachen auf. Die Mithilfe bei der Vermarkung im Rahmen von Grundstücksvermessungen blieb den Untergängern jedoch weiterhin.
Markstein im Sindelfinger Sommerhofental; Hirschstange als Hinweis auf den ehemaligen württembergischen Staatswald Winterhalde. (Foto: Klaus Philippscheck)
Erstveröffentlichung: Sindelfinger Jahrbuch 1987, Seite 318.
Mit freundlicher Genehmigung der Familie Schempp und der Stadt Sindelfingen.