Bis ins 20. Jahrhundert war Sindelfingen eine bedeutende Weberstadt
Sindelfingen und seine Webereigeschichte
Autor: Klaus Philippscheck
Kaum in einer anderen württembergischen Stadt ist die Weberei im Verhältnis zur Größe bodenständiger und altüberlieferter als in Sindelfingen …“
hieß es 1914 in der Zeitschrift „Die Textilwoche“.
Eine überraschende Aussage – denn zwar ist manchen Sindelfingern ihre Stadt noch immer als Weberstadt im Bewusstsein, aber dass sie in dieser Rolle eine überregionale Bedeutung gehabt haben könnte, vermutet doch kaum jemand. Aber genauere Untersuchungen zeigen uns diese Bedeutung ganz deutlich.
Fällt Sindelfingen im 18. Jahrhundert seine Handwerker betreffend noch nicht „aus dem Rahmen“, so muss sich zur Jahrhundertwende Wichtiges verändert haben. Denn in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts weist Sindelfingen nunmehr Zahlen von Webmeistern auf, die es an die Spitze aller württembergischen Weberstädte katapultieren! In den „Württembergischen Jahrbüchern“ von 1832 können wir nachlesen, dass auch so berühmte Weberstädte wie Urach, Heidenheim oder Laichingen nicht annähernd so viele Webmeister in ihren Mauern beherbergen wie Sindelfingen mit seinen 237 Meistern und 140 Gesellen.
Die genauen Ursachen für diese bemerkenswerte Entwicklung Sindelfingens und einiger umliegender Orte (nicht aber Böblingens!) sind uns noch nicht klar. Wurden hier zu viele Äcker durch die Realteilung und den starken Bevölkerungsanstieg zu klein? Hat die Auflösung der Calwer „Zeughandelskompagnie“ 1797 damit zu tun, für die die Sindelfinger Weber arbeiten mussten? Nunmehr konnte man sich vielleicht andere Auftraggeber suchen, die besser bezahlten als die berüchtigt eng kalkulierenden Calwer.
Jedenfalls stellt Sindelfingen schon Anfang des letzten Jahrhunderts eine ausgesprochen gewerbereiche Gemeinde dar, deren „Fleiß und Betriebsamkeit“ immer wieder erwähnt werden. Auffällig auch, dass wir um 1835 schon zwei Dutzend Webmeister finden, die sich dem noch argwöhnisch beäugten Rohstoff Baumwolle zugewandt hatten. Der versprach größere Gewinne, aber erzwang auch eine dauernde Marktbeobachtung, ein häufiges Umstellen auf neue Dessins, eine starke Abhängigkeit vom Weltmarkt. Auch die Geborgenheit der Zunft fehlte. Die neue Baumwollweberei war durch den württembergischen Staat bewusst nicht mehr in Zunftstrukturen eingebunden worden.
Aber auch die große Zahl der in der Leineweberzunft noch verbleibenden Weber Sindelfingens passte der neuen Zeit an. Anders etwa als in Laichingen auf der Alb, – wo wir bis in unser Jahrhundert hinein den besonders schlecht bezahlten Leineweber fanden, der tatsächlich nur Leinen verarbeitete -, wurden bei einer Zählung Mitte des vorigen Jahrhunderts hier nur noch ganze acht Leinenwebstühle gezählt. Das halbe Tausend anderer Stühle arbeitete längst überwiegend mit Baumwolle; der gleiche Webstuhl kann nämlich für beide Garne benutzt werden.
Das Haus Rathausplatz 11 in Sindelfingen. Um 1900 werden vier Besitzer verzeichnet: Gottlieb Volz, Weber; Karl Schmidt, Weber; Johann Georg Bader, Weber und Christian Rinkenberger, Weber. Foto aus dem Jahre 1927 – das Haus wurde im Krieg zerstört (© Landesmedienzentrum Baden-Württemberg)
Vielleicht war diese Flexibilität aber auch Ergebnis einer Konfrontation mit einem anderen Textilrohstoff, für dessen Bearbeitung Sindelfingen bald führend im Königreich Württemberg wurde: der Seide. Seit 1835 bestand hier eine größere Seidenmanufaktur, die etwa 50 Weber beschäftigte und damit einen regelrechten Schwerpunkt für diese schwierige Weberei schuf. Da sich dieser Spezialität auch die entstehende Sindelfinger Webschule annahm, finden wir im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer wieder Stuttgarter Firmen, die sich Sindelfingen zum Standort ihrer Seidenproduktion nehmen; kein anderer Ort Württembergs weist zu diesem Zeitpunkt so viele Seidenwebstühle wie Sindelfingen auf.
Auch die Korsettfabrikanten suchen sich im Sindelfinger Bezirk Arbeitskräfte für ihre Präzisionsarbeit und bauen hier Filialen auf. Deren Organisation wird hiesigen Werkführern anvertraut, die auch ein weites Umland betreuen. Da auch einige Sindelfinger Baumwollfabrikanten Hausweber bis in den Schwarzwald hinein für sich arbeiten lassen, wächst die Stadt zu einem regelrechten regionalen Textilzentrum heran. Und da gleichzeitig auch die komplizierte Jacquardweberei Fuß fasst, ergibt also die Sindelfinger Handweberei ein Bild, wie es sonst in Württemberg kaum noch einmal zu finden war: Ein riesiges Angebot von gut ausgebildeten, flexibel einsetzbaren Webern, die auch die kniffligsten Aufgaben lösen können und deshalb immer wieder Beschäftigung finden. Im Jahr 1890 – längst hat an vielen Orten Württembergs die Industrialisierung eingesetzt – sind im Sindelfinger Gewerbekataster 340 selbständige Webmeister aufgeführt – eine enorme Zahl in einem Ort, der zu diesem Zeitpunkt nicht viel mehr als 4000 Einwohner zählte!
Für die Weber heißt es aber noch ein letztes Mal umlernen. Die nun einsetzende mechanische Weberei spezialisiert sich in Sindelfingen u.a. auf die Jacquardweberei, auch auf die Teppichweberei. In beiden Bereichen nimmt man die württembergische Spitzenstellung ein; ja, die Jacquard- und Damastprodukte Sindelfingens werden auch auf dem Weltmarkt bekannt. So formuliert eine Textilzeitschrift Anfang des Jahrhunderts die Sonderstellung des kleinen Sindelfingen geradezu überschwänglich:
Die großen Wandlungen der Gewebearten im Sindelfinger Bezirk bilden einen der interessantesten Belege für die Beharrlichkeit und Ausdauer der Schwaben!“
Mit der Ansiedlung der Firma Daimler 1915 in Sindelfingen verschiebt sich der industrielle Schwerpunkt natürlich völlig. Sindelfingen wird zur Daimlerstadt; aber trotzdem gab es noch immer Familien, die ihre Söhne bewusst zur Weberei schickten. Und es ist heute kaum mehr vorstellbar: Noch in den frühen 30er Jahren arbeiten die allerletzten Sindelfinger in ihren häuslichen Werkstätten – zäh das traditionelle Handwerk verteidigend und ab und zu auch noch die überlieferten Leinenstoffe webend. Erst die Weltwirtschaftskrise lässt ihren Markt endgültig zusammenbrechen.
Im Jahre 1900 wurde in Sindelfingen die neue Webschule eröffnet.
Erstveröffentlichung: „Die Weberey ist hier sehr zu Hause“. Ausstellungsbroschüre zur Sindelfinger Weberei und ihrer Geschichte, Sindelfingen 1990.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Der Autor, Klaus Phlippscheck, war Lehrer in Sindelfingen und gehört zu den Mitbegründern des zeitreise-BB-Projektes. Seine Interessensschwerpunkte sind die Sindelfinger Stadtgeschichte, insbesondere die Webereigeschichte, sowie die Wiederentdeckung vergessener Sindelfinger Persönlichkeiten. Daneben arbeitete er auch zur Geschichte der Mühlen und der Grenzsteine im Landkreis BB.
Die erwähnte Broschüre wurde vom ehemaligen Verein „Die Weber e.V.“ in Sindelfingen herausgegeben. Weitere Informationen zu dieser Broschüre und zum obigen Thema über die E-Mail-Adresse k.phil@t-online.de