Ein Blick auf die Sozialgeschichte der Stadt Sindelfingen um 1885
Der Antrag der Weberwitwe Wolf
Autor: Klaus Philippscheck
Wir finden im Sindelfinger Archiv ein Dokument, das die soziale Lage der Weber um 1885 – aber auch die Arbeitsbedingungen in der Weberei – schlaglichtartig beleuchtet. Wir wollen es hier vorstellen und ein wenig kommentieren, weil es uns so eindrücklich und konkret vor Augen führt, was vor 100 Jahren soziale Wirklichkeit in Sindelfingen war:
Ende 1882 war der selbständige Webmeister Christian Gottlieb Wolf mit 67 Jahren gestorben. Die Lage der Familie war sicherlich schon vorher schwierig gewesen, denn wir finden Wolf nicht unter den Besitzern oder Mitbesitzern Sindelfinger Häuser. Das ist nicht die Regel in einem Ort, in dem normalerweise nur neu zuziehende Gesellen und Fabrikarbeiter oder nur die Sindelfinger, die in größte finanzielle Schwierigkeiten geraten sind, zur Miete wohnen.
Vielleicht haben Unglücksfälle oder Krankheiten zu diesen Problemen geführt; jedenfalls gestaltet sich die Lage der Witwe mit ihren zwei 18 und 20 Jahre alten Söhnen so, dass der Gemeinderat 1884 protokolliert, dass sich die Frau „in einer solch hilflosen Lage befindet, wie vielleicht es nur selten der Fall sein wird“.
Anlass für dieses Protokoll war die Tatsache, dass der ältere der beiden Söhne zum Militär eingezogen werden sollte. Die Witwe Wolf machte deshalb eine Eingabe an die Rekrutierungsbehörde in Stuttgart, um eine Zurückstellung des Sohnes zu erreichen. Sie begründet dies mit ihrer elenden Lage:
Sie sei krank und völlig auf ihren älteren Sohn Christian Friedrich angewiesen. Er dürfe auf keinen Fall eingezogen werden, denn die notwendigen „Dienste kann ihr der jüngere Sohn gar nicht leisten, wenn er aber auch allmählich sich dazu qualifizieren würde, so wäre er doch gar nicht im Stande, so viel zu verdienen, als zum Lebensunterhalt … erforderlich wäre“. Denn außer dass er sie pflegen müsse, würden weitere alltägliche Aspekte die Verdienstmöglichkeiten schmälern. Und diese zeigen uns die Arbeitsstrukturen und -bedingungen der damaligen Zeit auf.
An Sonn- und Feiertagen könne nichts verdient werden. Und da „uf’s Einrichten der Zettel mancher Tag kommt, wofür er keinen Lohn erhält“, seien die Einkünfte sowieso gering, zumal in einer Zeit, wo „auf Arbeit öfters gewartet werden muss“.
Die Brüder Gottlob Heinrich (li) und Christian Wolf (re) mit 2 Tanten aus Amerika. Bild aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. (Foto: Privatbesitz Familie Hochmuth)
Wir erkennen hier sehr deutlich die Situation der Hausweber. Sie bekommen von den Verlegern oder Fabriken Arbeit nach deren Auftragsstand zugewiesen. Diese bezahlen ihnen nur die fertige Ware – alle anderen Arbeiten müssen unbezahlt gemacht werden; oft von Familienangehörigen, die viele Stunden pro Tag dafür darangeben müssen. (Die Einrichtung eines Jacquardstuhls z.B. dauerte mehrere Tage und fand mindestens alle 3 Wochen statt.) Und wenn durch Krankheiten nichts verdient werden kann, dann muss das von der Familie aufgefangen werden, denn die Hausweber sind ja arbeitsrechtlich gesehen Selbständige.
Die Witwe Wolf berichtet auch über die Beschäftigungslage und das Einkommen der Weber um 1885. Die Lage bei der Seidenweberei sei ganz schlecht; viele müssten zur Baumwollweberei übergehen. Aber auch dort – so das Protokoll – „häufen sich bei der großen Conkurrenz, besonders der Maschinenweberei, immer mehr die Fälle, wo die Arbeiter öfters 8 – 14 Tage lang auf Beschäftigung warten müssen; in dieser Zeit wird durch Taglohnen etwas zu verdienen gesucht … . Weil nun aber der Verdienst eines gewöhnlichen Zeugleswebers täglich kaum 1 M – 1 1/2 M beträgt, wozu aber erforderlich ist, daß eine zweite Person täglich einige Stunden spult, was gewöhnlich von den Weibern oder von den Töchtern geschieht, so will der jüngere Wolf die etwas lohnendere Jacquardweberei erlernen, wozu es 6 – 8 Wochen bedarf, in welcher Zeit er durch besondere Vergünstigung des Fabrikanten Leibfried täglich ca. 40 – 50 Pfg. Lohn erhält, während er nachher täglich bis zu 2 M verdienen kann“.
Dies ist ein ausgesprochen guter Lohn; aber der ist nur in der Fabrik und nicht zu Hause zu erzielen; denn „auf Jacquardmaschinen kann nun der einzelne Weber zu Hause gar nicht arbeiten, weil die zur Aufstellung erforderliche Zimmerhöhe fehlt, sämtliche Jacquardstühle, auf welchen hier gearbeitet wird, befinden sich daher in den Fabriklokalen“.
Dies ist die schwierige Lage der Familie. Solche Unsicherheiten sind es wohl, die dazu führen, dass viele selbständige Webmeister, die ja in der Eingabe auch schon „Arbeiter“ genannt werden, die Konsequenzen ziehen: Ab 1893 tauchen viele von ihnen im Gewerbekataster nicht mehr auf. Sie werden auf ihren Antrag hin nun auch offiziell als „unselbständige“ Arbeiter der Firmen geführt, für die sie arbeiten.
Das machten damals auch die beiden Wolf-Brüder, die für die unsichere Lage der selbständigen Hausweber das Beispiel in der eigenen Familie vor Augen hatten. Die Bezahlung als Fabrikarbeiter – wenn auch zu Hause webend – war etwas sicherer. Die Lage der Familie stabilisierte sich auch allmählich: Christian Friedrich Wolf kaufte schon 1892 ein kleines Häuschen in der Grabenstraße, zog später in die Seemühlestraße, arbeitete dann bei der Firma I.C. Leibfried in Sindelfingen. Sein Sohn Paul wird Werkführer bei der Trikotagenfirma Vollmöller in Vaihingen/F. Gottlob Heinrich Wolf kauft 1905 die Hälfte des Firstsäulenhauses in der Oberen Vorstadt. Ihn finden wir später bei der Firma Zweigart & Sawitzki.
PS: Der Königlich Württembergische Oberrecrutierungs-Rath Generalmajor v. Witte hatte mit Schreiben vom 27.9.1884 die Eingabe der Witwe Wolf abgelehnt.
Erstveröffentlichung: „Die Weberey ist hier sehr zu Hause“. Ausstellungsbroschüre zur Sindelfinger Weberei und ihrer Geschichte, hrsg. vom ehemaligen Verein „Die Weber e.V.“, Sindelfingen 1990.
Der Autor, Klaus Phlippscheck, war Lehrer in Sindelfingen und gehört zu den Mitbegründern des zeitreise-BB-Projektes. Seine Interessensschwerpunkte sind die Sindelfinger Stadtgeschichte, insbesondere die Webereigeschichte, sowie die Wiederentdeckung vergessener Sindelfinger Persönlichkeiten. Daneben arbeitete er auch zur Geschichte der Mühlen und der Grenzsteine im Landkreis BB.
Weitere Informationen zu dieser Broschüre und zum obigen Thema über die E-Mail-Adresse des Autors: k.phil@t-online.de
Eine Neuauflage des Artikels erschien auch im Jahrbuch des Heimatgeschichtsvereins für Schönbuch und Gäu e.V. „Leben mit Vergangenheit“, hrsg. von Gerald Maier und Thomas Krazeisen, Band 2/2001.