Erwin Schöttle und der Widerstand gegen das Naziregime
Autorin: Olga Zimmermann
Erwin Schöttle (1899-1976) ist sicherlich einigen Stuttgartern ein Begriff, denn immerhin erinnert der Erwin-Schöttle-Platz in Stuttgart-Heslach an den SPD-Politiker, der seit der ersten Bundestagswahl 1949 bis 1972 dem Deutschen Bundestag angehörte und währenddessen zahlreiche Ämter innehatte. Für seine Arbeit erhielt er 1969 das Bundesverdienstkreuz und 1975 die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg. Doch dass Erwin Schöttle Leonberger war und zudem den Nationalsozialisten aktiv Widerstand leistete, ist wohl den Wenigsten bekannt.
Erwin Schöttle wurde am 18. Oktober 1899 als Sohn eines Schuhmachers in Leonberg geboren. Der gelernte Buchdrucker zog 1917 in den Ersten Weltkrieg, wo er an der Front einen jungen Sozialdemokraten kennen lernte. Diese Begegnung muss für den jungen Schöttle sehr eindrucksvoll gewesen sein, denn zwei Jahre später trat er nach der Entlassung aus dem Heeresdienst in die SPD ein. In der Jugendorganisation, der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ), machte der Zwanzigjährige seine ersten politischen Gehversuche. In den 1920er Jahren finden wir ihn als Mitglied des Sozialdemokratischen Vereins Leonberg.1 Nach Tätigkeiten bei der sozialdemokratischen Zeitung Schwäbische Tagwacht in Stuttgart und der Esslinger Volkszeitung, wurde er 1927 Mitglied im Landesvorstand der württembergischen SPD und vier Jahre später Parteisekretär in Stuttgart, wo er eng mit Kurt Schumacher zusammen arbeitete. Die fünf Wahlkämpfe des Jahres 1932, die hauptsächlich von Schöttle organisiert wurden, richteten sich hauptsächlich gegen die NSDAP und fast alle Flugblätter und Plakate stammten von Schöttle. Wie auch Kurt Schumacher empfand er die Politik der SPD gegen die Nationalsozialisten als zu zaghaft, so dass der Wahlkamp in Stuttgart weitaus aggressiver war, als in anderen Teilen des Reiches.
Damit macht sich Schöttle bei den Nazis natürlich keine Freunde. Fünf Tage nach ihrer Machtübernahme in Württemberg besetzte die SA am 10. März die Räume der Schwäbischen Tagwacht. Schöttle, der sich über die Absichten seiner Gegner im Klaren, war, hatte nach dem Wahlerfolg der NSDAP die Gelder der Stuttgarter SPD in Sicherheit gebracht und wichtige Parteiunterlagen im Neckar versenkt.
Obwohl er nach dem Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich ein Landtagsmandat erhielt, verschwand Schöttle im Laufe ansteigender Unterdrückung und Vergehen an Sozialdemokraten in den Untergrund. Trotzdem blieb er politisch aktiv, traf sich heimlich mit noch arbeitenden Parteigenossen um die politische Lage zu diskutieren. Doch schon im Mai verließ Schöttle Stuttgart und ging in die Schweiz nachdem er die Warnung erhalten hatte, dass die SA verstärkt nach ihm suche.
Auch im Exil in der Schweiz konnte Erwin Schöttle nicht untätig mit ansehen, wie die Nazis ihre Gegner brutal verfolgten und das Reich in einen Unrechtsstaat verwandelten. Mit folgenden Worten meldete er sich beim Exilvorstand seiner Partei in Prag:
Seit dem 18. Mai bin ich in der Schweiz, nachdem ich mich 8 Wochen lang den Verfolgungen der Stuttgarter Polizei entzogen hatte und in dieser Zeit neben zahlreichen Funktionärsversammlungen und Sitzungen eine Maifeier und mehrere illegale Veranstaltungen der Stuttgarter Partei durchgeführt habe
. Ich bin ins Ausland gegangen, da ich keine Aussicht hatte, mich noch länger halten zu können, und andererseits meinen Nazifreunden nicht den Gefallen tun wollte, ihnen eine billige Gelegenheit zu geben, um einen der von ihnen an meisten gehaßten Stuttgarter Sozialdemokraten in liebevolle Behandlung zu nehmen. (
) Selbstverständlich denke ich nicht daran, mich hier einzubauen, möchte vielmehr sobald als möglich wieder in irgendeiner Weise in die politische Arbeit eingreifen.2
Außerdem kritisierte er die Politik der Partei im Reich; besonders die Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu Hitlers Friedenserklärung vom 17.05.1933 verurteilte der Sozialdemokrat, die man wohl als Tiefpunkt ihrer Anpassungspolitik bezeichnen könnte.
Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Erwin Schöttle am 21. Oktober 1969 in Bonn durch den damaligen Bundestagspräsidenten Kai Uwe von Hassel. (Bild: Deutsches Bundesarchiv, B 145 Bild-F030279-0008, / Engelbert Reineke, Lizenz: CC-BY-SA 3.0 )
Trotz der Kritik erhielt Schöttle bald Antwort aus Prag und war bis 1939 als Grenzsekretär der Sopade 3für Südwestdeutschland in St. Gallen tätig. Er begann die Reste der Partei neu zu mobilisieren und zu organisieren und illegale Schriften, wie Aufsätze und Flugblätter, nach Deutschland zu schaffen. Zudem informierte er Prag regelmäßig über den Verlauf seiner illegalen Arbeit in Württemberg, sowie die dortige politische und wirtschaftliche Lage und die Stimmung der Bevölkerung.
Als am 12. November 1933 die NSDAP einen weiteren Wahlerfolg verbuchen konnte, wurde Schöttle bewusst, dass das Ziel der illegalen Arbeit nicht allein der Vertrieb von Broschüren und Zeitschriften gegen das NS-Regime sein dürfte. Vielmehr müssten die in Deutschland arbeitenden Genossen für die Übernahme der Führung im Reich nach einem Sieg über die Nationalsozialisten geschult werden. Allerdings wurde ihm nach 1935 auch klar, dass die Nazis nicht von innen heraus besiegt werden konnten.
So versorgte er in der Folgezeit seine Gruppe mit wichtigen Diskussionsmaterialien und gab ab Mai 1934 den Roten Kurier, in Anlehnung an den Stuttgarter NS-Kurier, heraus. Zudem wurde er Mitglied der Gruppe Neu Beginnen, einer marxistischen Organisation, die auch Widerstand gegen den Nationalsozialismus leistete.
Immer wieder konnte die Gestapo einzelne Gruppenmitglieder in Württemberg ausfindig machen und festnehmen. Doch trotz der stets drohenden Gefahr arbeiteten viele Gruppenmitglieder weiter und hielten Kontakt zu Schöttle.
Als auf einer Neu Beginnen-Konferenz 1937 in Paris die Teilnehmer der Überzeugung waren, dass Deutschland innerhalb der nächsten zwei Jahre auf einen Krieg steuerte, beschloss man die Leitung nach England und die USA zu verlegen. Auch Erwin Schöttle sollte die Schweiz verlassen, die im Falle eines Krieges nicht mehr sicher schien. Vier Tage vor Kriegsausbruch kam er mit seiner Frau und seiner Tochter in England an und übernahm die Leitung des Auslandsbüros. Dort arbeitete er auf das Ziel hin, eine Verständigung aller sozialdemokratischen und unabhängigen sozialistischen Gruppen im Ausland zu erreichen, was die Gruppe Neu Beginnen bereits ein Jahr zuvor versucht hatte, jedoch auf den Widerstand des Sopade-Vorstands traf. Doch nach Kriegsbeginn änderte sich die Stimmung, so dass kurz darauf die Union der sozialistischen Organisation in Großbritannien gegründet wurde.
Neben seiner Tätigkeit beim BBC als Redakteur und Sprecher für deutschsprachige Sendungen, widmetet sich Schöttle seiner Arbeit bei der Union und arbeitete mit anderen Mitgliedern an Konzepten für ein demokratisch-sozialistisches Nachkriegssystem für Deutschland. Viele dieser Überlegungen wurden später in das Programm der SPD und auch ins Grundgesetz übernommen, so dass das Wirken des Leonbergers weit über die Benennung eines Platzes in Stuttgart hinausgeht.
Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Erwin Schöttle am 21. Oktober 1969 in Bonn durch den damaligen Bundestagspräsidenten Kai Uwe von Hassel. (Bild: Deutsches Bundesarchiv, B 145 Bild-F030279-0008, / Engelbert Reineke / ) CC-BY-SA 3.0
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Der Artikel ist im Wesentlichen eine Zusammenfassung des Aufsatzes von Walter Nachtmann, Erwin Schöttle. Grenzsekretär der Sozialdemokraten für Württemberg, in: Der Widerstand im deutschen Südwesten 1933-1945. Hrsg. v. Michael Bosch und Wolgang Niess. Stuttgart, 1984, Seite 153-161.
Artikel zu Erwin Schöttle bei Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Erwin_Schoettle
Erwin Schöttle als Ehrenbürger auf der Homepage der Stadt Stuttgart: http://www.stuttgart.de/item/show/300510
Referenz
↑1 | Benigna Schönhagen, zwischen Revolution und Diktatur: Leonberg 1918-1945, in: Leonberg Eine altwürttembergische Stadt und ihre Gemeinden im Wandel der Geschichte. Von Wilfried Setzler, Hansmartin Decker-Hauff, Joachim Fischer, Andrea Hähnle, Hans-Georg Hofacker, Fritz Oechslen, Benigna Schönhagen, Ingo Stork und Volker Trugenberger, WEGRAhistorik-Verlag Eberhard Hartenstein und Partner Stuttgart, 1992, Seite 254f. |
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↑2 | Archiv der Sozialen Demokratie. Sopade-Emigration, Nr. 114. Korrespondenz Schöttle Sopade-Vorstand. Nach: Walter Nachtmann: Erwin Schöttle. Grenzsekretär der Sozialdemokraten für Württemberg, in: Der Widerstand im deutschen Südwesten 1933-1945. Hrsg. v. Michael Bosch und Wolgang Niess. Stuttgart, 1984, S. 153-161. |
↑3 | Sopade (auch: SoPaDe) nannte sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) von 1933-39 im Prager, von 1939-40 im Pariser und von 1940-45 im angelsächsischen Exil. |