Arbeitskampf im Jahre 1911
Im Jahr 1911 kam es in zwei Schönaicher Zigarrenfabriken zu einem monatelangen Arbeitskampf, der mit aller Schärfe geführt wurde. Auch in Sindelfingen traten Arbeiter in der Schuhfabrik Dinkelacker in den Ausstand.
Das wachsende Bewusstsein der Arbeiterklasse und die steigenden Lebensmittelpreise hatten zu Beginn des Jahre 1911 in Schönaich zu einer konfliktreichen Situation geführt. Einige Arbeiter der 1892 in den Lachen (auf dem heutigen Gelände der Firma Honeywell Centra) angesiedelten Tabakfabrik Gotthilf Schrägle hatten sich dem Deutschen Tabakarbeiter-Verband angeschlossen. Daraufhin griff Fabrikbesitzer Schrägle zu einem drastischen Mittel: Er entließ Arbeiter – um die Organisation vor Ort zu sprengen, wie ihm die Arbeiter vorwarfen.
Doch das Gegenteil trat ein. Die gesamte Belegschaft zeigte sich solidarisch, reichte die Kündigung ein und legte Mitte Februar die Arbeit nieder. Auch in der Zigarrenfabrik G. Bodenheimer begannen die Arbeiter zu streiken, nachdem die Geschäftsleitung jegliche Verhandlungen abgelehnt hatte. Vermittlungsbemühungen der Gauleitung scheiterten. Insgesamt 245 Personen befanden sich im Streik.Nach sechs Wochen war noch keine Bewegung in den Arbeitskampf gekommen. Aus Berlin kam die Rednerin Ostinde angereist, um im Löwensaal“ einen Vortrag über die Lage das Tabakgewerbes und den Kampf ums Dasein in der Branche zu halten. Die bürgerlichen Kollegien der Gemeinde schalteten sich ein, drängten auf die Beendigung des Arbeitskampfes. Dezent wiesen sie die Fabrikbesitzer darauf hin, dass ihnen Gemeindeland für ihre Fabriken zur Verfügung gestellt worden war. Doch die Intervention hatte keinen Erfolg.
Gotthilf Schrägle musste sich unterdessen gegen Vorwürfe der Arbeiter erwehren, die in der Zeitung erhoben worden waren. Die Streikenden hatten ihm vorgehalten, infolge des Streiks in Rheinzabern eine zweite Fabrik errichtet zu haben, in der die Arbeiter besser bezahlt wurden. Schrägle wies diese Vorwürfe zurück: Die Verbreitung derartiger unwahrer Behauptung soll jedenfalls nur den Zweck haben, die Arbeiter und die Einwohnerschaft irre zu führen.
Schikanöse Behandlung
Nach den Schilderungen der Arbeiter war der Streit zwischen Geschäftsführung und Belegschaft nach einer Veranstaltung des Tabakarbeiter-Verbandes im Spätjahr 1910 eskaliert. Der Geschäftsführer, der in der schlechten Behandlung der Arbeiter stets sein Möglichstes zu leisten bestrebt war“, soll zwei Arbeiter, die bei dieser Versammlung das Wort ergriffen hatten, derart schikanös behandelt haben, dass die Absicht, sie aus dem Geschäft hinauszuärgern, unverkennbar“ gewesen sei. Außerdem ist von Einschüchterungen die Rede.
Entlassung am Heiligabend
Nachdem offensichtlich bei der Bürgerausschusswahl im Dezember etliche Arbeiter nicht ihren Chef gewählt und sich kurz vor Weihnachten 90 Arbeiter dem Tabakarbeiter-Verband angeschlossen hatten, war für Schrägle das Maß voll. Am Heiligabend entließ er zwölf Mitarbeiter, die zum Teil schon 15 Jahre in seinem Betrieb gearbeitet hatten. Nach einem Vermittlungsversuch eines Verbandsvertreters soll Schrägle die Kündigung zurückgenommen und dies mit seinem Ehrenwort bekräftigt haben. Nach Darstellung der Streikenden brach der Fabrikbesitzer aber schon Anfang Januar sein Wort und setzte 14 Arbeiter auf die Straße. Daraufhin trat die gesamte Belegschaft dem Arbeiterverband bei. Von Lohnerhöhungen sei bis dahin noch keine Rede gewesen. …
Der Text endet mit einem Appell an die Tabakarbeiter Schönaichs, der Zeugnis ablegt vom gewachsenen Klassen- und Machtbewusstsein der Arbeiter: Die Zeit ist vorbei, wo ihr ohnmächtig, mit der Faust in der Tasche euch alles bieten lassen mußtet, wo ein offenes männliches Wort eurem Arbeitgeber gegenüber mit dem Hinauswerfen bedroht wurde … Das wird Fabrikant Schrägle nicht erleben, dass eure Kinder bei ihm um Brot schreien, aber so weit wird es kommen, dass er die Hand zu einem ehrenvollen Frieden bieten muss, wenn er nicht sein Geschäft zu Grunde richten will“.
Mitte April meldeten sich sogar die Schönaicher Geschäftsleute, die um ihre Umsätze bangten, …wenn 200 Arbeiter monatelang nur von der Unterstützung leben, die ihnen aus der Streikkasse zufließt, und welche nur zur Befriedigung der allernotwendigsten Bedürfnisse ausreicht. Die Gemeinde selbst hat aber ernsthaft zu befürchten, dass die Fabrikanten ihre Betriebe von hier wegverlegen.“
Doch auch dieser Aufruf zeigte keine Wirkung. Noch am 8. Mai berichtet die Sindelfinger Zeitung, dass der Streik unvermindert anhalte. Wann der Arbeitskampf dann endlich beendet wurde, darüber schweigen sich die alten Zeitungen allerdings aus.
Streik in Sindelfinger Schuhfabrik Dinkelacker
Auch in Sindelfingen kam es im Herbst 1911 zu einem Arbeitskampf. Die Arbeiter in der Schuhfabrik H. Dinkelacker waren in den Ausstand getreten. …
Die Arbeiter forderten mehr Lohn – die Tageslöhne lagen zwischen 2,20 und 4,40 Mark – und eine Verkürzung der Arbeitszeit, die bei zehn Stunden und zehn Minuten lag. Fabrikbesitzer Dinkelacker versuchte unterdessen, über Anzeigen im Gäu- und Ammertalboten neue Arbeiter als Streikbrecher zu gewinnen. … Auch hier verlieren sich die Spuren des Streiks in den alten Zeitungen.
Erstveröffentlichung: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren. Röhm Verlag, Sindelfingen 1999, S. 31
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung / Böblinger Zeitung
Die Zunahme der Arbeiterbevölkerung und das wachsende Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft machte sich nach 1890 (Aufhebung des Sozialistengesetzes) deutlich im öffentlichen Leben bemerkbar. Die sozialen Gegensätze verschärften sich und immer öfter gingen die sozialdemokratisch organisierten Fabrikarbeiter dazu über, ihren Forderungen durch kollektive Arbeitsniederlegungen Nachdruck zu verleihen.
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