In den drei größten Webereien traten 1906 erstmals die Arbeiter in den Streik
Nun hatte die weite, harte Welt auch das Weberstädtchen Sindelfingen eingeholt. Am 30. April 1906 traten 150 Weberei-Arbeiter, die in den drei größten Sindelfinger Webereien beschäftigt waren, in den Streik. Tagelange Verhandlungen um die Forderungen der Arbeiter waren gescheitert, obwohl die Bürgerschaft die Forderungen der Weber als “nicht zu weitgehend“ empfand – so berichtete es damals die Zeitung.
Konfliktlos war das Verhältnis zwischen den selbstständigen Webern oder den Fabrikwebern und den Fabrikanten nie gewesen. Unzählige Fälle sind noch heute im Sindelfinger Archiv dokumentiert, die auf dauernde Streitigkeiten hinweisen. Denn die soziale Lage der Weber war immer zu hart, als dass nicht auf jeden einzelnen Pfennig geachtet werden musste. Nur wenige Pfennig Stundenlohn sprangen heraus – und das bei langer, harter, konzentrierter Arbeit. Alle Familienmitglieder mussten mitarbeiten, und trotzdem war der Hunger ein dauernder Begleiter in Sindelfinger Familien.
So nimmt es nicht wunder, dass frühzeitig von Versuchen der Sindelfinger Weber berichtet wird, sich zu organisieren. Kurzfristig bestand sogar eine “Internationale Gewerksgenossenschaft“, die sich im „Adler“ traf. Die Sindelfinger Verhältnisse verschärfen sich mit der Entwicklung größerer, mechanischer Webereien ab 1880: Weiterhin bekannt wurden die Firmen Wilhelm Dinkelaker, l. C. Leibfried und Zweigart & Sawitzki (…). Nun besaß auch Sindelfingen die “klassischen“ Fabrikarbeiter, die in den Zeiten der Bismarckschen “Sozialistengesetze“ politisiert wurden. Die standen den eher konservativen, selbstständigen Webmeistern gegenüber, die den politischen Charakter der Auseinandersetzungen ablehnten. (…)
Als im Jahre 1906 die Lebenshaltungskosten so weit gestiegen waren, dass viele Arbeiter kaum noch ihre Familien ernähren konnten, schlug die Stunde derjenigen, die die Bittgänge zu den Fabrikanten ablehnten. “Berufsfremde Agitatoren“, „jugendliche Schreier“ und „sozialdemokratische Wühler“ wurden sie von Arbeitgeberseite genannt.
Die Öffentlichkeit war aber auf der Seite der Arbeiter: 30 Pfennig Stundenlohn und Einhaltung des Zehn-Stunden-Tages wurden als berechtigte Forderungen empfunden.
Als tagelange Verhandlungen nicht zum Erfolg führten, kam es zum zehntägigen Streik. Dass schließlich alle Forderungen durchgesetzt wurden, ist sicher ein Grund für das wachsende Selbstbewusstsein der Arbeiterbewegung gewesen. Arbeitskämpfe wurden nun auch in kleineren Sindelfinger Betrieben geführt.
Auseinandersetzung in der Sindelfinger Zeitung am 5. Mai 1906 (Bild: SZ/z)
Erstveröffentlichung: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren. Röhm Verlag, Sindelfingen 1999, S. 21.
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung / Böblinger Zeitung
Die Zunahme der Arbeiterbevölkerung und das wachsende Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft machte sich nach 1890 (Aufhebung des Sozialistengesetzes) deutlich im öffentlichen Leben bemerkbar. Die sozialen Gegensätze verschärften sich und immer öfter gingen die sozialdemokratisch organisierten Fabrikarbeiter dazu über, ihren Forderungen durch kollektive Arbeitsniederlegungen Nachdruck zu verleihen.
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