Frühindustrielle Bauten wie Perlen an einer Schnur
Sindelfinger Industriegeschichte – erzählt entlang der Bahnhofstraße
Autor: Horst Zecha
Nachdem sich Sindelfingens Bemühungen um einen eigenen Bahnanschluss 1879 zunächst zerschlagen hatten, blieb den Sindelfingern nichts anderes übrig, als das Projekt einer Verbindungsstraße zum Bahnhof Böblingen in Angriff zu nehmen. So entstand 1883/84 die 2,25 km lange Bahnhofstraße, die den Sindelfinger Marktplatz und den Böblinger Bahnhof auf kürzestem Wege verband. Für das kleine Städtchen bedeutete dies eine gewaltige finanzielle Kraftanstrengung, war aber auch eine Investition, die sich schon bald in mehrfacher Hinsicht auszahlen sollte. Im folgenden Textauszug erläutert Horst Zecha, wie sich die Bahnhofstraße schon bald zur Achse des frühindustriellen Fortschritts entwickelte:
(…) Im Lauf des 19. Jahrhunderts hatte sich Sindelfingen zu einer führenden Weberstadt im Königreich Württemberg entwickelt. (…) Was die Mechanisierung und Industrialisierung überhaupt anbetraf, steckte Sindelfingen noch in den Kinderschuhen. (…) Durch den Bau der Bahnhofstraße beschleunigte sich die lang ersehnte Mechanisierung und Ansiedlung weiterer Industriebetriebe. Bereits ein Jahr nach dem Bau stattete Johann Wizemann seine Weberei in der Unteren Vorstadt mit einem Dampfkessel aus. Zwei der noch lange Jahrzehnte bedeutendsten Webereifirmen, Zweigart & Sawitzki in der Wettbachstraße und Wilhelm Dinkelaker in der Leonberger Straße folgten 1887 und 1888.
Und natürlich bot sich auch das weitgehend ebene und völlig unbebaute Gelände rechts und links der neuen Straße in besonderem Maße zur Ansiedlung neuer Fabrikanlagen an, konnte man doch damit die Entfernung zum Bahnhof so kurz wie möglich halten. Tatsächlich siedelten sich unmittelbar nach Fertigstellung der Straße die ersten Firmen dort an, und die allererste Fabrikansiedlung bestimmt noch bis heute das Erscheinungsbild der Bahnhofstraße: Es ist die Weberei des Johann Christian Leibfried, später und bis heute immer fälschlicherweise I.C. Leibfried genannt. Zunächst war es noch ein eher bescheidenes Fabrikgebäude, das die 1881 gegründete Firma 1885 in der Bahnhofstraße 14 errichtete, doch schon bald kamen verschiedene Erweiterungsbauten dazu. 1890 wurde der Betrieb, der sich auf die Herstellung von Tapisseriegeweben, Tischdecken und Schürzen spezialisiert hatte, mechanisiert, und eine Statistik des Jahres 1911 weist eine Belegschaft von 101 Personen auf, womit I.C. Leibfried zur zweitgrößten Fabrik Sindelfingens knapp hinter der Weberei Zweigart & Sawitzki geworden war. 1936 wurde entlang der Bahnhofstraße, ein Fabrikneubau errichtet, der noch heute steht und der Straße seine Prägung verleiht.
1939 hatte die Belegschaft mit 185 Personen ihren Höchststand erreicht. Heute sind bei der Firma etwa 100 Menschen beschäftigt. Hergestellt werden schwerpunktmäßig Handarbeitsstoffe, die überwiegend in den Export nach Amerika, Australien und die europäischen Länder gehen.
Zu den wenigen erhalten gebliebenen Beispielen für die Backstein-Industriearchitektur der Jahrhundertwende in Sindelfingen gehört die 1903 erbaute ehemalige Strumpffabrik Entreß in der Bahnhofstraße 43. Das Gebäude gehörte lange der Firma IBM, die hier ihr Museum zur Geschichte der IBM-Datenverarbeitung untergebracht hatte. Das Foto zeigt das Gebäude vor seiner umfassenden Renovierung.
Neben verschiedenen kleineren Firmen, die oft schon nach wenigen Jahren wieder von der Bildfläche verschwanden, ist als nächste bedeutende Industrieansiedlung entlang der Bahnhofstraße, deren Auswirkung ebenfalls bis heute deutlich sichtbar ist, die Firma Emil Kabisch zu nennen, die sich 1895 im Wiesengrund, unmittelbar an der Gemarkungsgrenze zu Böblingen niederließ.
Zunächst als Fabrik für Webereimaschinen und -zubehör gebaut, erweiterte die Firma bald um eine eigene Weberei und verschiedene weitere Anbauten. Im Jahr 1911 wies die Maschinenfabrik Kabisch bereits 59 Beschäftigte auf. Durch verschiedene Firmenfusionen ging die Firma Kabisch in der Firma Optima und diese wiederum in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in der Deutschen Hollerith auf. Diese wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Bestandteil der IBM, und tatsächlich war der Sindelfinger Wiesengrund bis vor einigen Jahren Standort eines großen IBM-Werkes. (…)
So hatten sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zwei Bebauungsschwerpunkte entlang der Bahnhofstraße gebildet: einmal die innenstadtnahe Bebauung mit der Firma I.G. Leibfried als größtem zusammenhängendem Areal, und direkt an der Markungsgrenze die Firma Kabisch, in deren Umfeld auch weitere Bebauung entstand. Erst im Jahr 1903 begann sich auch der Zwischenraum zu füllen, und zwar zunächst mit einem Gebäude, das noch bis heute ebenfalls in engstem Zusammenhang mit der Firma IBM steht.
Der Fabrikant Franz Entreß erstellte in der Bahnhofstraße 43 eine Strumpffabrik, in der 1911 86 Personen beschäftigt waren und die damit, was die Belegschaftszahl anbetrifft, das viertgrößte Unternehmen im damaligen Sindelfingen war. Über verschiedene Besitzerwechsel gelangte das Gebäude schließlich in den Besitz der Firma IBM, die dort bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine Lochkartendruckerei betrieb. Heute ist das in der Substanz noch erhaltene Gebäude das Haus zur Geschichte der IBM-Datenverarbeitung“. (…)
Ebenfalls 1903 konnte die Stadt selbst endlich dem mit der Industrieansiedlung einhergehenden steigenden Energiebedarf Rechnung tragen und ein Gaswerk errichten. Dass auch diese kommunale Versorgungseinrichtung an der Bahnhofstraße erstellt wurde, war nahe liegend: Zum einen stand städtischer Grund zur Verfügung, zum anderen konnte der Weg für den Kohletransport vom Bahnhof Böblingen so kurz wie möglich gehalten werden. (…) Teile der Gaswerksbauten standen noch bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg, und noch heute zeugen massive Bodenverunreinigungen vom ehemaligen Standort.
An den genannten Beispielen wird deutlich, dass sich bereits 20 Jahre nach Erbauung der Bahnhofstraße die frühindustriellen Bauten wie Perlen an einer Schnur entlang dieser Straße aufreihten. Wie sehr die Bahnhofstraße zur wirtschaftlichen Entwicklungsachse Sindelfingens geworden war, macht die Statistik der Industrie-Arbeitsplätze aus dem Jahr 1911, die Stadtschultheiß Hörmann zusammengestellt hat, deutlich. Von den 726 Arbeitsplätzen, die Hörmann auflistet, befanden sich 250, das sind fast 35%, in der Bahnhofstraße.
Auf dem Plan sind die östlicher verlaufende alte Verbindung zwischen Sindelfingen und Böblingen über den Goldberg und die neue, direkt zum Bahnhof Böblingen führende Bahnhofstraße eingezeichnet. (Bild: Stadtarchiv Sindelfingen)
Aber entlang der Bahnhofstraße siedelten sich nicht nur Industrieunternehmen an, sondern sie wurde bald auch zu einer guten Adresse für den Neubau von Wohnhäusern. Kein Geringerer als Stadtschultheiß Frank selbst war einer der ersten Bauherren in der Bahnhofstraße, Fabrikantenwohnhäuser sind ebenso in der Liste der Baugesuche zu finden wie das Haus des Webschulleiters Leopold und des späteren Stadtpflegers Leibfried.
So entstand entlang der Bahnhofstraße von Anfang an das, was wir heute als Mischbebauung bezeichnen würden, und dieses Gemisch aus Fabriken, einfachen Wohnhäusern, Gastwirtschaften und repräsentativen Wohngebäuden gibt der Straße noch bis heute ihr eigentümliches Gepräge. …
Ob der kurze Zeit zuvor endlich fertig gestellte Bahnanschluss als Standortfaktor eine Rolle bei der Ansiedlung des Daimler-Werkes im Sommer 1915 gespielt hat, muss dahingestellt bleiben. Was nun an Industrialisierung gewissermaßen über Sindelfingen hereinbrach, hatte zweifellos ganz andere Dimensionen als die bisherige Entwicklung. Dennoch sollte man aber darüber nicht vergessen, dass Sindelfingen schon lange vor der Ansiedlung der Firma mit dem Stern den Weg hin zur Industriestadt beschritten hatte. Und in diesem Prozess hat die Bahnhofstraße eine ganz wichtige Rolle gespielt. (…)
(…) Seit 1973 trennt die Autobahn Stuttgart – Singen die beiden Städte und hat damit auch die ursprüngliche Verbindungsstraße gekappt. Die neu gebaute Rudolf-Diesel-Straße, in die die Autobahnanschlussstelle Böblingen/Sindelfingen mündet, hat nun die Funktion der Hauptverbindungsstraße zwischen den beiden Städten übernommen. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde dann ein größeres Stück der alten Verbindungsstraße durch das Daimler-Benz-Werk (heute Daimler-Chrysler) überbaut, so dass heute von der [seit 1958 so genannten] Tübinger Allee nur noch ein wenige hundert Meter langes Teilstück zwischen dem Werksgelände von Daimler-Chrysler und der Autobahn existiert. Wie auf einer Insel aus vergangener Zeit stehen hier, im Wiesengrund, in trister Umgebung, einige alte Gebäude, die die ursprüngliche Bedeutung des ins Abseits geratenen Straßenstücks noch erahnen lassen. Die bevorstehende grundlegende Sanierung wird das Gesicht dieses Areals in absehbarer Zeit sicher grundlegend verändern.
In seinem Verlauf dagegen erhalten geblieben ist das bereits am Anfang angesprochene Stück der Bahnhofstraße vom Marktplatz bis zur Kreuzung mit der heutigen Hanns-Martin-Schleyer-Straße. Hier finden sich noch heute in Form der beschriebenen Wohn- und Fabrikgebäude Bauzeugen für die Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Wie keine andere Sindelfinger Straße erzählt die Bahnhofstraße noch heute von der Zeit der Frühindustrialisierung Sindelfingens, die, sonst in unserer nach dem Zweiten Weltkrieg rasant gewachsenen Stadt nur noch wenige Spuren hinterlassen hat. (…)
Stadtpfleger Wilhelm Leibfried ließ sich 1904 von Architekt Georg Bürkle eine repräsentative Villa im Burgenstil an der Bahnhofstraße errichten. (Bild: Susanne Schmidt)
Erstveröffentlichung: Aus Schönbuch und Gäu - Beilage der Kreiszeitung/Böblinger Bote, 2. Heft 2001, S. 1 – 4.
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Heimatgeschichtsvereins für Schönbuch und Gäu.
Der Autor, Horst Zecha, ist Historiker und leitete viele Jahre das Sindelfinger Stadtarchiv und das Stadtmuseum. Heute ist er Kulturamtsleiter der Stadt Sindelfingen.
Eine ungekürzte Text-Version des Aufsatzes von Horst Zecha Sindelfinger Industriegeschichte – erzählt entlang der Bahnhofstraße können Sie hier als pdf-Datei herunterladen.