Der Gedenkstein für Kurt Braun im Wald bei Leonberg
Autor: Eberhard Schmalzried
Am 12. Dezember 2002 erschien in der Leonberger Kreiszeitung ein Artikel über einen jungen Mann, Kurt Braun, der sich am 12. Februar 1945 in einem Waldstück bei Leonberg das Leben genommen hatte.
Mein Freund Klaus Beer und ich haben am 60. Todestag des Mannes, am 15. Februar 2005, zu einer Gedenkfeier an dem Stein eingeladen, etwa vierzig Leute nahmen daran teil. Es wurde beschlossen, der Geschichte nachzugehen und dadurch noch weitere Einzelheiten zu erfahren. Nach mehreren Zusammenkünften kam folgendes Schicksal zu Tage:
Die Eltern Braun lebten nur wenige hundert Meter von dem Waldstück entfernt, in dem sich Kurt Braun das Leben genommen hatte. Sie hatten zwei Söhne, Walter und Kurt. Der Vater, Otto Braun, betrieb ein Café mit Terrasse, ein beliebter Treffpunkt der Jugend. Die Mutter starb bald nach dem Krieg, der Vater zog später aus Leonberg fort und ist heute nicht mehr am Leben.
Bei einem der Treffen erzählte Herr Schneider, er könne sich gut an die Familie und die beiden Brüder erinnern. Er bringt ein Foto, das den jungen Kurt Braun, der 1924 geboren war, zusammen mit dem Vater von Herrn Schneider (Jahrgang 1923) zeigt. Die Männer tragen Wehrmachtsuniform. Beide waren 1944 in Italien im Krieg. Auf dem Foto sitzen sie im Freien auf einem kleinen Hügel, im Hintergrund sieht man eine weite, bergige Landschaft, vielleicht den Apennin.
Der ältere Sohn Walter fiel im Oktober 1944 in Russland. Der ein Jahr jüngere Sohn Kurt kam im Februar 1945 zu einem kurzen Urlaub nach Hause und wollte danach nicht mehr zurück an die Front. Am Sonntag vor seinem Tod sei Kurt bei der Familie Schneider zu Besuch gewesen. Er hätte immer sehr gern rote Grütze mit Vanillesoße gegessen. Herrn Schneiders Vater habe erzählt, Kurt hätte ihn um eine Kugel gebeten, er hätte sie ihm aber nicht gegeben – mit der Bemerkung, „die Kugeln seien ja abgezählt“.
Kurt Braun (rechts) im Jahre 1944. (Foto: Familie Schneider)
Als Kurt Braun von daheim wegging, um sich zu töten, habe er zu seinen Eltern gesagt:
„Ich gehe und verabschiede mich von meinem Wald“.
Kurt lag etwa zehn Tage tot im Wald. Als man ihn fand, machte der Vater ein Foto. Kurt lag auf einem Reisighaufen, den Kopf nach hinten, den Mund geöffnet. Herr Schneider erzählte, er hätte das Foto als Kind oft gesehen und sich dabei gefürchtet.
Ein Nachbar berichtete, er hätte als Kind mit seinen Freunden öfter im Wald gespielt, dort wo jetzt der Gedenkstein für Kurt Braun steht. Der Mann sagt, er erinnere sich an eine Tafel mit dem Namen Kurt Braun. Sie sei an einem Baum angebracht gewesen. Der Stein selber sei erst später aufgestellt worden, nicht schon im Jahr 1945.
Vermutlich im Jahr 1946 ließ der Vater der beiden Brüder einen Gedenkstein aufstellen.
Er trägt auf der Vorderseite die Inschrift: Wegen Hitler und seinen Kriegsverbrechern starb hier unser letzter Sohn Kurt Braun geboren 3.2.1924 gestorben 12.2.1945 und auf der Rückseite: Walter Braun geboren 19.11.1925 gefallen im Osten 7.10.1944
Ich bat den Leonberger Steinmetz, Herrn Geisselhardt, die Inschrift auf dem Stein wieder lesbar zu machen, ohne den Charakter des Steins und seine „Würde“ anzutasten. Herr Geisselhardt ließ die Inschrift vorsichtig abbürsten und den „Boden“ der Buchstaben mit einer dezenten Farbe tönen, so dass sie wieder gut lesbar wurden.
Der Gedenkstein nach der kostenlosen Renovierung durch Steinmetz Geisselhardt.(Foto: Eberhard Schmalzried)
Sein Sohn zog den Freitod dem Kriegsdienst vor.
Artikel aus der Leonberger Kreiszeitung vom 12. Dezember 2002
Ein unscheinbarer Gedenkstein berichtet von der Weltgeschichte vor der eigenen Haustür
Sein Sohn zog den Freitod dem Kriegsdienst vor
Erstveröffentlichung: Leonberger Kreiszeitung vom 12. Dezember 2002
Autor: Michael Schmidt
Kurt Braun ist Bauunternehmer. Doch ein verwitterter Gedenkstein in der Nähe des Waldfriedhofs, mitten im Wald, beschäftigt den 57-Jährigen: An seinem Geburtstag starb ein anderer Kurt Braun – weil er nicht in den Krieg ziehen wollte. Heute scheinen die Spuren verwischt. Das „Cafe Braun“, ein beliebtes Ausflugsziel vor allem der Leonberger Jugend zwischen ehemaligem Golfplatz und Gerlinger Bopser, schloss irgendwann zu Beginn der sechziger Jahre. Die wenigsten Leonberger können sich noch an das Haus mit der schönen Terrasse im Eugen-Hegele-Weg erinnern.
Der Wirt, der es in den Nachkriegsjahren betrieb, hatte keinen Nachfolger. Nicht mehr nach dem Weltkrieg. Dort verlor er beide Söhne. Der eine fiel an der Front, der andere kämpfte bis zu den letzten Kriegstagen. Seinen 21. Geburtstag feierte der junge Soldat Kurt Braun am 3. Februar 1945. Vermutlich auf Heimaturlaub daheim, im Cafe der Eltern. Während die Rote Armee in Polen die Vernichtungslager Auschwitz und Birkenau befreiten und in Jalta der britische Premierminister Churchill, US-Präsident Roosevelt und Sowjetführer Stalin die Aufteilung Deutschlands besiegelten, galt für deutsche Soldaten das Wort von der „Verteidigung der Heimat bis zur letzten Granate.“
Der 21-jährige Braun erlebte gewiss keinen fröhlichen Geburtstag zu Hause. Sein Bruder, viele Freunde seiner Jahrgangsstufe waren bereits tot, elendiglich verreckt für einen so sinnlosen wie verbrecherischen Krieg. Der Junge sollte jedoch wieder zurück. An die Front, in den Osten. Ein Montagmorgen, der 12. Februar 1945, an dem sich der junge Mann wieder bei seiner Truppe melden sollte. Am nächsten Tag wäre zu anderen Zeiten in Leonberg Pferdemarkt gewesen. Pferde gab’s nur noch im Frontdienst und den Menschen war ohnehin schon lange nicht mehr nach feiern zumute. Sie kämpften ums Überleben.
Oder fällten eine Entscheidung, so wie Kurt Braun. Er wollte nicht mehr in den Krieg. Nicht mehr sterben, wie seine Kameraden an diesem Tag in Budapest, wo die Russen in einer furchtbaren Kesselschlacht die Deutschen besiegt haben. 49000 Soldaten der Wehrmacht starben, die Zahl der russischen und der zivilen Opfer wird auf dieselbe geschätzt.
Dahin wollte Kurt Braun nicht mehr zurück. An diesem kalten Morgen des 12. Februar, an dem die Deutschen die Ruhrtalsperren sprengten, um den Vormarsch der alliierten Befreier aufzuhalten, dabei Tausende ziviler Opfer auf der eigenen Seite billigend in Kauf nahmen, sagte Kurt Braun Nein. Nein zu diesem Krieg, aber auch Nein zu seinem eigenen Leben. Mit einer Pistole erschoss er sich wenige Meter von seinem Elternhaus, mitten im Wald. Ein toter Deserteur. Dem Vater brach das Herz wegen dieses Krieges, über diese persönlichen Opfer.
Diese kleine Geschichte innerhalb der großen Weltgeschichte wäre schon längst vergessen und die Spuren verwischt. Doch es gibt einen anderen Kurt Braun. Der wurde am Montag, 12. Februar 1945, geboren. Er wuchs in Leonberg auf, machte sich in den frühen sechziger Jahren selbstständig als Straßen- und Tiefbauunternehmer. Häufig zog er mit dem Bagger in den Wald zwischen Leonberg und Gerlingen, richtete Waldwege. Eines Tages stieß er auf einen kleinen Gedenkstein mit seinem Namen und seinem Datum. Nur war an seinem Geburtsdatum ein Kreuz in den Stein gemeißelt. „Das fuhr mir ziemlich im Schädel herum“, beschreibt der bodenständige Eltinger Unternehmer. Eher zufällig sprach er dann in den siebziger Jahren bei Arbeiten im Eugen-Hegele-Weg einen sehr alten Mann an. Den Vater des Soldaten Kurt Braun. Die Männer unterhielten sich, der Greis erzählte dem Namensvetter die Geschichte seiner Familie. Kurt Braun verstand jetzt auch die Inschrift des Gedenksteines, die ihn heute noch tief bewegt: „Wegen Hitler und seinen Kriegsverbrechern starb hier mein letzter Sohn.“
Mit freundlicher Genehmigung der Leonberger Kreiszeitung
Mit freundlicher Genehmigung des Autors