Architekt des ersten industriellen Aufschwungs in Sindelfingen
Georg Bürkle
Autor: Peter Bausch
Es gibt keinen Architekten, der das Sindelfinger Stadtbild so geprägt hat wie Georg Bürkle (1875-1962). Und doch gibt es praktisch keine Schriften über den Baumeister, der für Fabriken wie die Lamm-Brauerei, öffentliche Gebäude wie die Gartenstraßenschule, Bürgerhäuser wie die Villen Lanz oder Wittmann, aber auch für einfache Handwerkerbauten wie in der Hohen Straße und ganze Siedlungen wie den Zimmerplatz steht.
(…) Wie und warum Georg Bürkle ausgerechnet nach Sindelfingen kam, bleibt heute im Dunkel der Geschichte. Erst nachdem Dieter Hülle für die Festschrift zum 70. Geburtstag des Architekten und Unternehmers Karl-Heinz Reinheimer erstmals das Erbe Georg Bürkles schriftlich skizziert hatte, erfuhr der Kulturamtsleiter, daß der diplomierte Möbelzeichner schon 1904 als Bauleiter an der Gartenstraßenschule, dem heutigen Gustav-Heinemann-Haus, mitgearbeitet hatte.
Hildegard Bürkle, seine Schwiegertochter, die heute noch in Sindelfingen lebt, hat ein Zeugnis gefunden, das der damalige Stadtschultheiß Wilhelm Hörmann ausgestellt hat. In dem Papier wird zudem bestätigt, daß Herr Bürkle in den letzten Jahren hier eine Anzahl von Wohnhäusern, Brauereien, Fabriken erstellt oder restauriert hat, die sich sehr vorteilhaft gegenüber der bisherigen Bauweise hervorheben und der hiesigen Stadt zur Zierde gereichen.“
Dieter Hülle hat nach seinen Unterlagen ausgemacht, daß Georg Bürkle von 1904 bis 1914 allein 95 Gebäude in Sindelfingen entworfen hat. Dazu komme eine mindestens ebenso große Zahl von Um- und Anbauten verschiedenster Art1. Das kleine Handwerkerstädtchen, das um die Jahrhundertwende gerade 4.300 Einwohner zählte, ist also regelrecht explodiert, nachdem sich 1880 mit Zweigart und Sawitzki die erste mechanisierte Fabrik angesiedelt hatte.
Die neue Zeit hat sich natürlich auch in der Architektur niedergeschlagen. Waren die ersten Fabrikantenhäuser noch vom Historismus mit seinen Türmchen und Zitaten der Vergangenheit geprägt, entwickelte die Stuttgarter Schule eine neue Architektur. Sindelfingen bekam Landvillen im Grünen, die endgültig die mittelalterlichen Grenzen der Altstadt sprengten.
Baugesuch der Villa Lanz aus dem Jahre 1910. (Foto und farbige Überarbeitung: Klaus Philippscheck)
Ein Musterbeispiel für dieses Verständnis von Architektur ist die Villa Lanz an der Seestraße mit ihrem Steinsockel, dem Treppenaufgang und dem 1910 noch verspielten Türmchen auf dem Dach. Als Höhepunkt der Arbeit Georg Bürkles sehen Klaus Philippscheck und Horst Zecha2 aber die Villa des Fabrikanten Erwin Wittmann, der 1903 als Teilhaber bei Zweigart und Sawitzki eingestiegen war und sich in der schwäbischen Provinz einen Landsitz mit Badebassin, Lustgarten und Teehaus anlegte. Das Haus, damals weit außerhalb der Stadt, aber in Sichtweite der 1915 von Wilhelm Hörmann nach Sindelfingen gebrachten Daimler-Motorenwerke, ist 1937 von der Stadt gekauft worden, war bis weit nach dem zweiten Weltkrieg Wöchnerinnenheim, dann Jugendmusikschule und ist heute ein Kindertagheim.
Georg Bürkle, der die Entwürfe für die heute noch existierenden Villen Leibfried und Dinkelacker3 links und rechts der Bahnhofstraße gezeichnet hat, war aber nicht nur der Architekt der neuen Schicht von vermögenden Sindelfingern. Natürlich zählte auch Stadtschultheiß Wilhelm Hörmann zu seinen Kunden und reichte Bürkles Vorlagen als Baugesuch für sein Domizil in der damaligen Landhausstraße, die heute seinen Namen trägt, ein. Aber Georg Bürkle kümmerte sich mit derselben Hingabe auch um einfache Handwerkerhäuschen, die heute noch der Hohen Straße oder der Lützelwiesenstraße ihren Reiz geben.
Zudem gehörten Architekt und Stadtschultheiß zu den Verfechtern des genossenschaftlichen Siedlungsbaus. Für die Schnödenecksiedlung an der Stadthalle, für Horst Zecha ein architektonisches Juwel“, zeichnete zwar nicht Georg Bürkle, sondern der neun Jahre jüngere Stuttgarter Professor Paul Schmitthenner verantwortlich, aber Georg Bürkle muß sich als Bauleiter so gut bewährt haben, daß er den Auftrag bekam, die neue Zimmerplatzsiedlung mit 168 Wohnungen zwischen Rosen-, Tulpen-, Zimmer- und Maichinger Straße zu planen.
Häuser im Grünen mit Garten, nicht nur für Fabrikanten, sondern auch für Arbeiter, gesund, offen und ästhetisch schön wohnen – das war die Devise der Stuttgarter Schule. Für Klaus Philippscheck eine soziale Befriedungsaktion“, deren ideologischer Hintergrund heikel“ war. Denn Georg Bürkle ist 1931 in die NSDAP-Ortsgruppe eingetreten und war 1932 der erste noch demokratisch gewählte Nazi-Gemeinderat in Sindelfingen, 1933 wird er Aufsichtsratsvorsitzender der Baugenossenschaft.
Prägte das Sindelfinger Stadtbild nachhaltig: Architekt Georg Bürkle. (Foto: SZ/Privat)
Waren es die Versprechungen auf wirtschaftliche Besserung, die Georg Bürkle in die Arme der Nazis trieben?“, fragt Dieter Hülle in seinem Beitrag über das Architektur-Erbe. Schon 1935 hat Georg Bürkle den Gemeinderat verlassen und sich danach nicht mehr erkennbar politisch betätigt“. Horst Zecha vermutet, daß der Rückzug des‘ Architekten mit der Behandlung des damaligen Stadtgeometers Paul Mack zusammenhängt, der als aktives Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei 1934 von den Nazis aus dem Dienst des Rathauses entlassen wurde.
Für Paul Mack ist Georg Bürkle übrigens schon 1929 weit über seinen Schatten gesprungen. Mitten in den ideologischen Auseinandersetzungen der Architekten zwischen dem Stuttgarter Weißenhof-Stil und dem Gartenstadt-Konzept hat Sindelfingen nämlich ein Musterbeispiel für die damals revolutionäre Bauweise mit klaren, geometrischen Linien und Flachdächern bekommen. Das Haus, das Georg Bürkle für Paul Mack entworfen hat, ist auch heute noch ein sehenswerter Solitär über dem Klostersee.
Annäherung an die architektonische Moderne im Jahre 1929/30: Haus Mack in der ehemaligen Landhausstraße (heute Wilhelm-Hörmann-Straße). Die neuen, in Sindelfingen noch ungewohnten Architekturformen, gaben im Gemeinderat Anlass zu längeren Diskussionen. (Foto: Susanne Schmidt)
Erstveröffentlichung: Sindelfinger Zeitung vom 27. März 1999
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung / Böblinger Zeitung
Referenz
↑1 | Dieter E. Hülle, Sindelfinger Architekturgeschichte. In: HansDieter Halm/Ina Hochreuther, Doppelpass und Bodenhaftung Schlaglichter auf Karl-Heinz Reinheimer und sein Umfeld, Worms 1993, S. 141-148 |
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↑2 | Der Sindelfinger Stadtarchivar Horst Zecha und Klaus Philippscheck veranstalteten im März 1999 einen Informationsabend über den Architekten Georg Bürkle und seine Bauten in Sindelfingen. |
↑3 | Die unter Denkmalschutz stehende Villa Dinkelacker wurde 2001 trotz massiver Proteste aus der Sindelfinger Bürgerschaft abgerissen. |