Aus der Geschichte des Sindelfinger Daimler-Werkes
Autor: Horst Zecha
Die Begriffe „Sindelfingen“ und „Daimler-Benz“ sind heute aufs engste miteinander verbunden. Sindelfingen ist auch im Ausland als „Mercedes-Stadt“ bekannt. Weniger bekannt ist vielen sicherlich, dass das Zustandekommen dieser mittlerweile historischen Verbindung vor 75 Jahren auf kriegerische Ereignisse zurückzuführen ist. Die Geschichte des Sindelfinger Daimler-Werkes ist nämlich eng mit der Geschichte des 1. Weltkrieges verknüpft.
Mit der zunehmenden Bedeutung der Flugzeuge als Kriegswaffe seit 1914 ergab sich für die militärische Führung schon sehr bald die Notwendigkeit, sich nach geeignetem Gelände für neue Militärflughäfen umzusehen. Als ein Standort für solch einen neuen Flugplatz war … auch die Ebene zwischen Böblingen und Sindelfingen vorgesehen worden. Von dieser Planung unterrichtete Garnisonsverwaltungsdirektor Baur aus Stuttgart am 5. Juni 1915 den Sindelfinger Stadtschultheißen Hörmann. Das Flugplatzgelände sollte etwa zur Hälfte auf Sindelfinger Gemarkung liegen. In der Gemeinderatssitzung vom 7. Juni informierte Hörmann den Gemeinderat über dieses Vorhaben. Es kam zum Ausdruck, dass man sich schon aus vaterländischem Pflichtgefühl dem Ansinnen der Militärverwaltung nicht verschließen wolle und dass die Abgabe der Wiesengrundstücke auch keinen großen wirtschaftlichen Verlust für die Stadt bedeute. Allerdings erwartete … [man], dass Sindelfingen dafür bei der Anlage gewerblicher oder militärischer Einrichtungen berücksichtigt werde. Dieser Wunsch, (…), war aus Sindelfinger Sicht sehr verständlich, war man doch bei der industriellen Entwicklung gegenüber Böblingen aus verschiedenen Gründen ins Hintertreffen geraten.
Beginn der Bauarbeiten für das Daimler-Werk gegenüber dem Sindelfinger Bahnhof im Jahre 1915. (Foto: Mercedes-Benz Classic)
Das in der Gemeinderatssitzung besprochene Anliegen trug Stadtschultheiß Hörmann in einem Schreiben vom 22. Juni 1915 der königlichen Garnisonsverwaltung vor. Die weitere Entwicklung vollzog sich nun in atemberaubender Geschwindigkeit. Bereits am 28. Juni, also sechs Tage nach dem Schreiben Hörmanns, übersandte der oben erwähnte Garnisonsverwaltungsdirektor Baur einen Vertragsentwurf für die Ansiedlung einer Flugzeugfabrik der Daimler-Motoren-Gesellschaft auf Sindelfinger Gemarkung. (…)
Der von der Militärverwaltung vorgeschlagene Vertragsentwurf wurde von der Stadt mit geringfügigen Änderungen akzeptiert, und am 6. Juli 1915, also gerade zwei Wochen, nachdem Hörmann die Angelegenheit in die Wege geleitet hatte, kam es zum Vertragsabschluß zwischen der Daimler-Motoren-Gesellschaft und der Stadt Sindelfingen. Am 9. Juli billigte der Sindelfinger Gemeinderat einstimmig das Vertragswerk und brachte vor allem seine Freude darüber zum Ausdruck, dass die Ansiedlung eines „Unternehmens mit Weltgeltung“ gelungen sei.
Für die DMG wurde der Vertragsabschluß durch die günstigen Bedingungen, die die Stadt anbot, erleichtert. So garantierte Sindelfingen dem Unternehmen beispielsweise einen Grundstückspreis von 38 Pfennig pro Quadratmeter – ein auch für damalige Zeit sehr günstiges Angebot. Die Stadt verpflichtete sich, den Grundstückskauf zu übernehmen und eventuelle Preisdifferenzen aus der eigenen Kasse zu bezahlen. (…) Wegen des schleppenden Fortgangs der Grundstücksverhandlungen drohte die DMG ganz unverhohlen damit, sich in anderen Orten nach geeigneten Standorten umzusehen. Schließlich gelang es aber doch noch, die Grundstückskäufe rechtzeitig abzuschließen. Die Mehrkosten für die Stadt beliefen sich auf 76.000 Mark.
Flugzeugbau in der Montagehalle der Daimler-Motoren-Gesellschaft Sindelfingen. (Foto: Mercedes-Benz Classic)
Im Oktober 1915 konnte mit den ersten Baumaßnahmen begonnen werden. Im Frühjahr 1917 lief die Fertigung an, die sich allerdings aufgrund des Mangels an qualifizierten Arbeitern und Rohstoffen schwierig gestaltete. Hergestellt wurden Kampfflugzeuge, die überwiegend in Lizenz für andere Firmen gefertigt wurden, es gab aber auch Eigenkonstruktionen. Die Anzahl der tatsächlich bis Kriegsende in Sindelfingen gefertigten Flugzeuge … dürfte zwischen 250 und 300 liegen. (…)
Die Beschäftigtenzahlen schnellten nach der Aufnahme der Flugzeugproduktion 1917 sprunghaft in die Höhe. Am 1. Januar 1917 bestand die Belegschaft noch aus 227 Personen, am 1. Januar 1918 waren es 1900, und Anfang November 1918 erreichte die Belegschaft mit etwa 5600 Arbeitern und Angestellten, davon etwa 1000 Frauen, ihren Höchststand und überstieg damit auch die Gesamteinwohnerzahl Sindelfingens.
Dass diese Personalexpansion in einem Zeitraum von knapp zwei Jahren die Werksleitung, aber vor allem auch die Stadt vor riesige Unterbringungs- und Verpflegungsprobleme stellte, ist klar. Die Unterbringungsmöglichkeiten in Privatwohnungen und Gasthäusern wurden bis zum äußersten ausgeschöpft, außerdem viele Barackenunterkünfte erstellt. Wie drastisch sich gegen Kriegsende auch die Ernährungslage zuspitzte, macht ein Bericht der Daimler-Werksleitung vom August 1918 deutlich: (…) „Hier bekommt man ja tageweise nicht einmal Brot, ein Mißstand, der sicher bis jetzt in ganz Württemberg noch in keiner Stadt außer hier vorgekommen ist“. (…), allein, die Gesamtstimmung unserer Arbeiterschaft ist derart, daß wir uns aufs Schlimmste gefaßt machen müssen, besonders, wenn sich die Vorfälle wiederholen sollten, daß unsere Küche ohne Kartoffeln und ganz Sindelfingen tagelang ohne Brot ist.“ (…)
In Sindelfingen gefertigtes Daimler-Flugzeug. (Foto: Mercedes-Benz Classic)
Kriegsende und Revolution im November 1918 brachten für das Sindelfinger Werk tiefgreifende Veränderungen auf allen Gebieten. Wie überall in Deutschland übernahm im Zuge der Revolution auch im Sindelfinger Daimler-Werk der Arbeiterrat im November 1918 die Führung – zumindest kurzfristig. Es hätte aber vermutlich gar keiner streikenden Arbeiter bedurft, um das Sindelfinger Daimler-Werk lahmzulegen. Da das Werk zu 100 Prozent auf Rüstungsproduktion ausgerichtet war, kam die Fertigung nach Kriegsende praktisch vom einen auf den anderen Tag zum Erliegen. Die Belegschaft sank von 5600 im November 1918 auf 1200 im Oktober 1919, teilweise wurden mehrere hundert Entlassungen an einem Tag vorgenommen. Die Entlassungen schwächten auch die Stellung des Arbeiterrates entscheidend, so dass sich dieser bereits im Dezember 1918 wieder auflöste. Für die Stadt und ihre Einwohner bedeuteten die Massenentlassungen eine Katastrophe, wenn man auch berücksichtigen muss, dass die meisten Daimler-Arbeiter von auswärts kamen. Dafür verschärften aber wieder die zahlreichen Kriegsheimkehrer die Arbeitsmarktsituation in Sindelfingen.
Die Umstellung des Sindelfinger Werkes vorn Flugzeug- auf den Karosseriebau im Lauf des Jahres 1919 – die Übergangszeit hatte man unter anderem mit der Produktion von Schlafzimmermöbeln zu überbrücken versucht – brachte zunächst aufgrund einer missglückten Modellpolitik nicht den gewünschten Aufschwung, vielmehr wurden die Probleme durch die Hyperinflation von 1923 noch verschärft. Auch von der allgemeinen wirtschaftlichen Erholung, die ab 1924 in Deutschland einsetzte, konnte die DMG zunächst nicht profitieren. Im Gegenteil, das Jahr 1925 wurde zum schwersten Krisenjahr der DMG. Die Belegschaft des Werkes Sindelfingen, die seit 1919 immer zwischen 1200 und 1400 Personen betragen hatte, sank auf 575. Es kam zu Lohnkürzungen von bis zu 47 Prozent, sogar über eine völlige Schließung des Werkes wurde nachgedacht. Entsprechend dieser Entwicklung erlebte auch Sindelfingen 1925/26 seinen wirtschaftlichen Tiefpunkt. Aus den Unterlagen lässt sich erschließen, dass diese Jahre der Stadt schlimmere Not brachten als die große Weltwirtschaftskrise Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre.
Das Sindelfinger Daimler-Werk 1918. Anfang November 1918 erreichte die Belegschaft mit etwa 5600 Arbeitern und Angestellten ihren Höchststand und überstieg die Gesamteinwohnerzahl Sindelfingens. (Foto: Mercedes-Benz Classic)
Um die Misere zu beenden, machte man sich in der Konzernspitze der DMG Gedanken über mögliche Geschäftspartner, und so kam es 1926 schließlich zur Fusion mit der Automobilfirma Benz und zur Entstehung der Daimler-Benz AG. Im Rahmen dieser Fusion fielen auch dem Werk Sindelfingen neue Aufgaben zu. So wurde 1926 der Omnibusbau von Gaggenau nach Sindelfingen verlegt, im gleichen Jahr wurde die Karosserieproduktion in Mannheim eingestellt und stattdessen in das hiesige Werk verlegt. Diese Maßnahmen und die Gesundung des Gesamtkonzerns nach der Fusion führten nun endlich auch in Sindelfingen zu einem kräftigen Aufschwung, die Belegschaft stieg bis Sommer 1927 auf 2000 Mitarbeiter an. Gleichzeitig … fand unter dem seit 1927 amtierenden Werksleiter Wilhelm Haspel auch eine durchgreifende Rationalisierung und Modernisierung statt, so dass das Sindelfinger Werk Ende der 20er Jahre mit seinen Montagebändern, einer Vorform der Fließbänder, zwar noch nicht den amerikanischen Vorbildern entsprach, aber jedenfalls als modernstes Werk der Daimler-Benz AG gelten konnte.
Serienproduktion im Werk Sindelfingen um 1928. (Foto: Mercedes-Benz Classic)
1929 betrug der absolute durchschnittliche Brutto-Stundenverdienst für Daimler-Facharbeiter 1,25 Mark und für Hilfsarbeiter 82 Pfennig und lag damit über dem Reichsdurchschnitt. Die wöchentliche Arbeitszeit betrug 44,5 Stunden. Das Ansteigen der Belegschaft im Sindelfinger Werk nach 1926 verschärfte die ohnehin vorhandene Wohnungsnot wieder beträchtlich. Da die Stadt allein die Mittel für große Wohnungsbauprogramme nicht aufbringen konnte und Daimler-Benz andererseits auf die Schaffung von Wohnraum drängte, kam es 1927 zur Gründung der bis heute bestehenden “Sindelfinger Wohnstättengesellschaft“, SWG, an der sich die Stadt zu 60 Prozent und das Daimler-Benz-Werk zu 40 Prozent beteiligten. In den folgenden Jahren wurden immer wieder große Bauprojekte durchgeführt – 1927 beispielsweise der Bau der Zimmerplatzsiedlung zwischen Maichinger Straße und Rosenstraße. Dennoch blieb die Wohnungsnot von 1915 bis heute ein Sindelfinger Dauerbrenner.
Nach einer kurzen intensiven Aufschwungphase kam es bereits 1928 wieder zu Entlassungen und Kurzarbeit im Sindelfinger Werk, und im Verlauf der Weltwirtschaftskrise wurde die Belegschaft immer weiter reduziert. (…) Tatsächlich scheint Sindelfingen trotz aller Not die Weltwirtschaftskrise noch relativ gut überstanden zu haben. So lag die Arbeitslosenquote Anfang 1933 im Reichsdurchschnitt bei 18,1 %, in Sindelfingen aber immerhin “nur“ bei etwa 11,5%.
Das Sindelfinger Daimler-Werk Ende der 20er Jahre. (Foto: Mercedes-Benz Classic)
Die Machtübernahme Hitlers im Januar 1933 bedeutete auch für das Sindelfinger Daimler-Benz-Werk den Beginn einer neuen Epoche. Als erstes bekamen die Arbeitnehmervertreter den neuen “Zeitgeist“ zu spüren. Nachdem Anfang Mai die freien Gewerkschaften ausgeschaltet worden waren, gingen die Nationalsozialisten daran, auch in den einzelnen Betrieben jegliche Arbeitnehmervertretung zu zerschlagen.
Otto Götz, der 1933 Betriebsrat im Sindelfinger Werk war, beschreibt in seinen Lebenserinnerungen, wie die “Gleichschaltung“ vor sich ging:
Im Jahr 1933 – nach dem 1. Mai – ließ der nun erster Direktor in Sindelfingen gewordene Haspel den Betriebsratsvorsitzenden Paul Müller gegen 11 Uhr zu sich rufen und erklärte ihm: “Wenn ich bis 14 Uhr die Mitteilung von Euch habe, daß ihr als Betriebs- und Arbeiterrat zurücktretet, kann ich etwas für euch tun.“ Um 11.30 Uhr waren wir beisammen. Paul Müller berichtete. Ich meinte dann: “Dies ist ein Angebot, das nur ein Mann wie Haspel machen kann. Er muß die Antwort bis 14 Uhr an das Oberamt weitergeben. Ich glaube, er will allen Komplikationen im Betrieb aus dem Weg gehen, einige andere sind schon verhaftet. Wenn wir ihm die Antwort geben, die er erwartet, wird er uns im Betrieb haben wollen, nicht im Gefängnis.“ Damit war die Entscheidung gefallen. Am anderen Morgen wusste ich, was Obiges zu bedeuten hatte. Zu Tausenden wurden Frauen und Männer, die nicht an Hitler und sein Programm glauben konnten, auf Lastwagen gestellt und zum Lager Heuberg gebracht.“
Mit dem 1934 erlassenen „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ wurde das Führerprinzip auch in den Betrieben eingeführt. In den Werken wurden die “Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisationen“, NSBO, als Kontroll- und Überwachungsapparate ausgebaut. Auch äußerlich änderte sich das Werksleben durch die NS-Herrschaft. An den nationalsozialistischen Feiertagen wie 1. Mai und Führers Geburtstag wurden jeweils Betriebsappelle für die ganze Belegschaft durchgeführt: Programmpunkte waren zumeist die Übertragung einer Hitler-Rede über Lautsprecher sowie die Reden örtlicher Partei- und Betriebsführer. Am 1. Mai hatte sich die Belegschaft außerdem noch geschlossen am Maiaufmarsch in der Stadt zu beteiligen.
Wirtschaftlich ging es mit dem Sindelfinger Daimler-Benz-Werk wie auch mit der gesamten deutschen Industrie steil bergauf. Da Hitler die Automobilindustrie besonders förderte, war es nicht verwunderlich, dass sich die Beschäftigungslage in Sindelfingen besonders schnell und nachhaltig besserte Die Belegschaft des Werkes wuchs von etwa 1500 Beschäftigten bis Ende 1939 auf über 6000 Arbeiter und Angestellte. Schon sehr früh – seit Sommer 1934 – herrschte in Sindelfingen wieder Vollbeschäftigung.
Neben der Produktion eigener, in den 30er Jahren sehr erfolgreicher Personenwagen war das Sindelfinger Werk aber auch maßgeblich an der Entwicklung von Hitlers Prestige-Projekt, dem Volkswagen, beteiligt. Hier in Sindelfingen wurden 1936 die ersten 30 Karosserie-Prototypen des KdF1-Wagens gebaut, und so ist es nicht ganz übertrieben, Sindelfingen als einen Geburtsort des legendären Käfers zu bezeichnen. Die deutsche Hochkonjunktur der späten 30er Jahre war zu einem großen Teil auf eine Besserung der weltwirtschaftlichen Lage, auf eine unverantwortliche Schuldenpolitik der Regierung und auf die gigantische Rüstungsproduktion zurückzuführen, die Hitler in systematischer Vorbereitung eines kommenden Krieges immer stärker vorantrieb. Dass die Daimler-Benz AG intensiv in das Aufrüstungsprogramm miteinbezogen wurde, ist kaum verwunderlich. Eine im Jahr 1944 angefertigte Chronik über das Werk Sindelfingen in den Kriegsjahren gibt eine detaillierte Beschreibung über das Verhältnis des Sindelfinger Betriebes und seiner Funktionäre zur NSDAP und zum NS-Staat. Was der Chronist 1944 noch als positiv schildert, (…), wird heute zu einem beklemmenden Dokument über die enge Verflechtung auch des Sindelfinger Werkes mit den herrschenden Nationalsozialisten.2
Feier im Sindelfinger Daimler-Benz-Werk anlässlich Hitlers Geburtstag 1939. (Foto: Mercedes-Benz Classic)
Mit dem Überfall Hitlers auf Polen begann am 1. 9. 1939 der Zweite Weltkrieg, und nun vollzog sich auch die endgültige und vollständige Umstellung des Sindelfinger Werkes auf die Rüstungsproduktion. Aus einem Schreiben vom Juli 1944 geht hervor, dass etwa 25 % der Fertigung für das Heer und 75 % für die Luftwaffe erfolgten. Spätestens seit September 1938 wurden Teile von Heeresfahrzeugen produziert. Die Produktion für die Luftwaffe begann erst nach 1939. Hergestellt wurden Tragflächen sowie Motor- und Rumpfteile für verschiedene Kampfflugzeuge. Gegen Ende des Krieges übernahm Sindelfingen auch noch die Produktion der Heckteile der V2-Rakete, die in den letzten Kriegsmonaten beim Beschuss englischer Städte zum Einsatz kam und von der NS-Propaganda als eine der Wunderwaffen hochgespielt wurde, die im letzten Augenblick die Wende des Krieges bringen sollten.
Dass das Sindelfinger Werk in den Kriegsjahren zunehmend an Bedeutung gewann, macht ein Blick auf die Umsatzzahlen deutlich. Der Umsatz des gesamten Werkes stieg von 1,4 Millionen RM im Jahr 1938 auf 47,8 Millionen im Jahr 1944, also um fast 3500 %. Der Umsatz des gesamten Daimler-Benz-Konzerns erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 462 auf 954 Millionen RM. Diese immense Umsatzsteigerung ließ sich natürlich nur durch eine ebenso immense Produktionssteigerung erzielen Mit den mit zunehmender Kriegsdauer immer knapper werdenden deutschen Arbeitskräften war diese Produktionssteigerung nicht zu erreichen, und so ist auch im Werk Sindelfingen die Rüstungsproduktion untrennbar mit dem Thema „Fremdarbeiter“ verbunden.
(…) 1941 trafen die ersten Fremdarbeiter im Werk Sindelfingen ein. 1942 begann dann der Ausländereinsatz im großen Stil. Aus den in der Nachkriegszeit rekonstruierten Fremdarbeiterlisten, …, geht hervor, dass im Werk Sindelfingen während des Krieges insgesamt etwa 2500 Fremdarbeiter arbeiteten. Am stärksten vertreten waren Sowjetrussen, Franzosen und Holländer. Der Fremdarbeiteranteil an der Gesamtbelegschaft lag 1944 bei ca. 33%.
Die Unterbringung der vielen Arbeiter stellte die Firmenleitung natürlich vor große Schwierigkeiten. 1941 wurde ein erstes Barackenlager am Daimlerweg errichtet, 1942 folgte der Bau weiterer Lager auf dem Werksgelände. Für die Behandlung, Bezahlung und Verpflegung von Zwangsarbeitern gab es reichsweit einheitliche Bestimmungen, in denen sich der nationalsozialistische Rassenwahn widerspiegelt. So wurden die Zivilarbeiter aus Frankreich, Holland und Belgien noch am besten bezahlt und verpflegt. Sie erhielten im allgemeinen auch Gelegenheit, ihre Lager zu bestimmten Zeiten zu verlassen. Der persönliche Umgang mit ihnen war der Bevölkerung allerdings bei strengsten Strafen verboten.
Wesentlich schlechter gestellt waren die sog. „Ostarbeiter“, die ja von den Nationalsozialisten als rassisch minderwertig angesehen wurden. Die Nahrungsmittelrationen waren für Ostarbeiter dermaßen gering, dass diese damit praktisch nicht überleben, geschweige denn schwere körperliche Arbeit leisten konnten. So waren die einzelnen Betriebe gezwungen, den sowjetischen Arbeitern und Arbeiterinnen, auf deren Arbeitskraft sie ja zur Erfüllung der ihnen gegebenen Rüstungsaufträge zwingend angewiesen waren, zusätzliche Verpflegung zukommen zu lassen. Für russische Frauen waren die Bedingungen nochmals schlechter als für Männer. Auch ein Blick auf die Todesursachen der in Sindelfingen verstorbenen Zwangsarbeiter belegt die verheerenden Lebensumstände der Frauen, Männer und Kinder aus der Sowjetunion. Nach einer Liste, die allerdings erst nach dem Kriegsende erstellt wurde, kamen in Sindelfingen 54 Fremdarbeiter ums Leben, davon 27 Westarbeiter und 25 Sowjetrussen. Von den Westarbeitern wurden 23 bei Fliegerangriffen getötet, 4 starben an Krankheiten. Von den 25 Russen starben dagegen nur 2 bei Fliegerangriffen, aber 18 an Krankheiten wie Lungenentzündung und Tuberkulose oder an „chronischen Ernährungsstörungen“. Auf dem alten Sindelfinger Friedhof erinnern heute noch Sammelgräber an dieses wohl dunkelste Kapitel der Werksgeschichte. (…) Soweit sich die realen Verhältnisse heute noch rekonstruieren lassen, war die Behandlung der Zwangsarbeiter im Sindelfinger Daimler-Benz Werk sogar noch relativ gut.
Dass das Sindelfinger Werk wegen seiner Rüstungsproduktion im Kriegsfall zu einem Hauptangriffsziel der Alliierten werden würde, war klar, und mit der zunehmenden Luftüberlegenheit der Alliierten war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch das Sindelfinger Werk bombardiert werden würde. Die ersten Angriffe im Herbst 1943 führten zur weitgehenden Zerstörung eines der Fremdarbeiterlager, die Schäden im Werk selbst waren dagegen eher gering. Zu dieser Zeit existierte bereits für sämtliche Rüstungsbetriebe die Anweisung, Materialien und Maschinen, die für die Rüstungsproduktion wichtig und möglicherweise sogar unersetzlich waren, aus dem Werk auszulagern. (…) Die ausgelagerten Materialien, Maschinen oder auch komplette Abteilungen wurden sowohl in Lager- und Fabrikgebäuden Sindelfingens oder der benachbarten Ortschaften, als auch in unterirdischen Fertigungsstätten wie Eisenbahntunnels oder eigens gebauten Stollensystemen untergebracht.
Wie weit die Auslagerungen aus Sindelfingen bereits fortgeschritten waren, als Werk und Stadt im September 1944 zum Ziel massiver Luftangriffe wurden, ist nicht mehr im einzelnen zu rekonstruieren. Bei den zwei schweren Angriffen innerhalb von drei Tagen entstanden sowohl in der Stadt als auch im Werk verheerende Schäden. (…) Insgesamt fanden 56 Menschen bei Luftangriffen, die dem Sindelfinger Daimler-Benz-Werk galten, den Tod. Nach den schweren Zerstörungen vom September 1944 wurde die Produktion in Sindelfingen bis Kriegsende nur noch in sehr begrenztem Umfang wieder aufgenommen. Auch die Alliierten hatten das Werk wegen weitgehender Zerstörung aus ihrer Angriffsliste gestrichen. (…)
Fremdarbeiterlager „Riedmühle“ 1942. (Foto: Mercedes-Benz Classic)
Betrachtet man die bloßen Fakten, wie sie sich nach Kriegsende darstellten, so ergibt sich für das Daimler-Benz-Werk Sindelfingen zunächst ein augenfälliger Widerspruch. Bei Kriegsende war der Prozentsatz der zerstörten Gebäude in Sindelfingen mit 85 % höher als in allen anderen Werken. Andererseits konnte aber im Spätherbst 1945, also ein knappes halbes Jahr nach Kriegsende, die Pkw-Produktion in Sindelfingen … bereits wieder aufgenommen werden. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich klären, wenn man berücksichtigt, dass gerade das Presswerk als Herzstück einer zukünftigen Automobilproduktion von den Zerstörungen weitgehend verschont geblieben war. Auch den Demontagen, die die französischen Besatzungstruppen im Werk Sindelfingen vornahmen, entgingen die Karosseriepressen aufgrund ihrer Größe. Schließlich ist noch zu berücksichtigen, dass viele wertvolle und wichtige Maschinen bereits bei den Auslagerungsaktionen des Jahres 1944 abtransportiert worden waren, die nun wieder unversehrt ins Werk zurückgebracht werden konnten.
Anders als nach dem Ersten Weltkrieg waren die beschäftigungspolitischen Auswirkungen des Kriegsendes nicht so tiefgreifend und langfristig. Zwar blieben Entlassungen nicht aus, aber durch die Rückkehr der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in ihre Heimatländer und das Ausscheiden vieler während des Krieges eingestellter Frauen aus dem Produktionsprozess fand bereits eine deutliche Reduzierung der Belegschaft statt. Durch Reparaturen von Fahrzeugen der amerikanischen Besatzungsmacht, die im Sommer 1945 die Franzosen abgelöst hatte, aber auch durch die Herstellung von Holzspielzeug, Bestecken und Tellern konnte die Zeit bis zur Wiederaufnahme der eigenen Pkw-Produktion, …, einigermaßen überbrückt werden.
Parallel zum relativ raschen Wiederbeginn der Produktion verlief auch der Wieder- bzw. Neuaufbau des Werkes. Bereits im Februar 1946 wurde für Sindelfingen ein Bauprogramm von 9,5 Mill. Mark in die Wege geleitet und 1949 waren die Kriegsschäden im Werk Sindelfingen weitestgehend beseitigt.
Erste Nachkriegsprodukte, gefertigt im Sindelfinger Werk 1945. (Foto: Mercedes-Benz Classic)
Die zentrale Rolle für das Sindelfinger Werk in den ersten Nachkriegsjahren spielte Wilhelm Haspel. Haspel, früherer Leiter des Werkes Sindelfingen und seit 1942 Vorstand des Gesamtkonzerns, wurde im Herbst 1945 auf Anweisung der Amerikaner im Zusammenhang mit der Entnazifizierung zunächst von seinem Amt suspendiert, konnte aber seit Januar 1948 die Geschäftsleitung wieder übernehmen, nachdem er in zwei Spruchkammerverfahren rehabilitiert worden war. 1948 wurden die von Haspel bereits während des Krieges entwickelten Pläne zu einer Neustrukturierung des Daimler-Benz-Konzerns in die Tat umgesetzt. Außer seiner ursprünglichen Funktion als Karosseriewerk wurde nun in Sindelfingen auch die Endmontage aller Mercedes-Personenwagen konzentriert. Somit fiel dem Sindelfinger Werk die zentrale Rolle in der Pkw-Produktion zu, und entsprechend explosionsartig war auch seine Nachkriegsentwicklung. Hatte das Werk im Februar 1946 2500 Beschäftige, so waren es Ende 1948 7500. 1949 war in Sindelfingen bereits wieder Vollbeschäftigung erreicht, und im Jahr 1950 überstieg die Zahl der Beschäftigten mit 12.760 erstmals nach dem Krieg die Gesamteinwohnerzahl Sindelfingens.
Während Untertürkheim als zentrales Werk der Daimler-Benz AG bereits vor dem Krieg durch seine ungünstige Lage ständig mit räumlichen Problemen zu kämpfen hatte, waren in Sindelfingen zunächst unbegrenzt erscheinende Erweiterungsmöglichkeiten vorhanden, und es wurde mit riesigem Investitionsaufwand erweitert. Allein in der Zeit von 1979 bis 1984 betrugen die durchschnittlichen jährlichen Investitionen 493 Millionen Mark. Überlegungen, ob nicht auch irgendwann die räumlichen und personellen Grenzen des Sindelfinger Werkes erreicht würden, wurden in der Konzernführung erstmals zu Beginn der 70er Jahre laut. In der Jubiläumschronik zum hundertjährigen Firmenbestehen aus dem Jahr 1986 heißt es dazu: „Die Frage, ob Sindelfingen den Anforderungen weiterer Kapazitätssteigerungen auch auf die Dauer gewachsen sein würde, stellte sich erstmals im Jahr 1972. Die Bedenken entstanden vor allem aus der Überlegung, dass ein Werk wie Sindelfingen nicht eine gewisse Größenordnung überschreiten sollte, um für die Infrastruktur der umgebenden Region nicht zur Belastung zu werden.“ In dem Werk waren damals über 30.000 Menschen beschäftigt.
Diese Überlegungen führten zusammen mit anderen Faktoren zum Aufbau eines zweiten, allerdings erheblich kleineren Karosseriewerks in Bremen. Die Gründung des Werkes Bremen führte aber nun keineswegs zu einer Stagnation des Sindelfinger Werkes, ganz im Gegenteil, die Produktionszahlen kletterten weiter von 250 Pkw pro Tag im Jahr 1956 auf gegenwärtig (1991) etwa 1700 Pkw pro Tag. Heute (1991) arbeiten etwa 46.000 Menschen auf dem mittlerweile 200 ha großen Werksareal, davon 9000 Ausländer. (…)
Die Auswirkungen, die die Anwesenheit eines so großen Unternehmens auf eine Stadt wie Sindelfingen hat, können sicher kaum hoch genug eingeschätzt werden – der Gewerbesteuerrückgang und die daraus resultierenden Probleme im städtischen Haushalt beweisen es augenblicklich (1991) wieder überdeutlich. Vollbeschäftigung, hohe Löhne und vorbildliche städtische Sozialeinrichtungen – auf der anderen Seite Verkehrskollaps, permanente Wohnungsnot, überteuerte Mieten und Grundstückspreise – alles hat aufs engste mit “dem Daimler“ zu tun. Die Ansiedlung des Untertürkheimer Unternehmens 1915 hat das Bild der Stadt grundlegend verändert und ihre Geschichte maßgeblich beeinflusst.
Quellen- und Literaturangaben
Quellen- und Literaturangaben zur Geschichte des Daimler-Werkes Sindelfingen
Benutzte Quellen
Stadtarchiv Sindelfingen:
Gemeinderatsprotokolle 1915 ff
A 956 ff
1112 Verwaltungsberichte 1925 ff
4071 Firma Daimler-Benz
4733 -4740 Ausländische Arbeitnehmer
4815
7560 Sindelfinger Wohnstättengesellschaft
8450/3 Gräber von Ausländern
9400-9426 Kriegsfolgen 1945-1970
9425 Ausländische Kriegsgefangene/Ausländersuchverfahren
9445 Kriegs- und Fliegerschäden
Bauakten Daimler-Benz AG
Daimler-Benz Archiv Untertürkheim:
Bestand DMG 83. 99, 222
Bestand Sindelfingen 1, 2, 5,11, 56
Bestand Huppenbauer
187.188, 233 – 236, 329,330. 393, 401, 404, 453,461-500
Bestand Haspel HS 2
„Unser Werk in den Kriegsjahren 1939-1944″
(Bestand Sindelfingen 56)
K. Zapf, Mercedes-Stern und Fremdarbeiter 1941 -1945
Staatsarchiv Ludwigsburg:
F157
Literatur:
U. Herbert, Fremdarbeiter. Bonn 1985
M. Kruk/G. Lingnau, 100 Jahre Daimler-Benz. Das Unternehmen. Mainz 1986
Mercedes-Benz AG (Hrsg.), Werk Sindelfingen. Ein historischer Überblick. Sindelfingen 1990
H. Pohl/S. Habeth/B. Brüninghaus, Die Daimler-Benz AG in den Jahren 1933 -1945. Stuttgart 1986
K. H. Roth/M. Schmid, Die Daimler-Benz AG 1916 – 1948. Schlüsseldokumente zur Konzerngeschichte. (Schriften der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte, Bd. 5) Nördlingen 1987
Schriften der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte, Bd. 3, Das Daimler-Benz Buch. Nördlingen 1987
Schülerarbeitsgruppe am Goldberg-Gymnasium Sindelfingen, Zwangsarbeiter in Sindelfingen 1940-1945. Sindelfingen 1989
H. E. Specker, Die Ansiedlung der Firma Daimler-Benz AG in Sindelfingen. In: Jahrbuch der Stadt Sindelfingen 1967, S. 322 ff.
H. Weisert, Geschichte der Stadt Sindelfingen. Sindelfingen 1977
Pkw-Produktion 1949. (Foto: Mercedes-Benz Classic)
Erstveröffentlichung: Horst Zecha, „Aus der Geschichte des Daimler-Werkes Sindelfingen“, in: Sindelfinger Fundstücke – Von der Steinzeit bis zur Gegenwart. Festschrift für Eugen Schempp, hrsg. vom Stadtarchiv Sindelfingen, Sindelfingen 1991 [Stadtarchiv Sindelfingen Veröffentlichungen 1], S. 101 - 113.
Veröffentlichung in leicht gekürzter Version mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Für die Abbildungsgenehmigung der Fotos bedanken wir uns beim Mercedes-Benz-Archiv in Stuttgart-Untertürkheim.
Der Autor, Horst Zecha, ist Historiker und leitete viele Jahre das Sindelfinger Stadtarchiv und das Stadtmuseum. Heute ist er Kulturamtsleiter der Stadt Sindelfingen.
Eine ungekürzte Text-Version des Aufsatzes von Horst Zecha können Sie hier als pdf-Datei herunterladen.
Links und Literatur
Daimler …. wie es zur Ansiedlung in Sindelfingen kam – Blog der „AK Böblinger Flughafengeschichten„
Mercedeswerk Sindelfingen bei Wikipedia
Daimler AG
Mercedes-Benz-Museum Stuttgart
Referenz
↑1 | Die am 27. November 1933 gegründete Organisation Kraft durch Freude war der Deutschen Arbeitsfront (DAF) untergeordnet und zuständig für die Freizeitgestaltung der deutschen Bevölkerung. Die KdF-Gemeinschaft galt als die massenwirksamste und populärste Organisation des NS-Regimes, da sie ein breites Erholungs- und Unterhaltungsprogramm anbot, das vor allem für die Arbeiterschaft bis dahin unerschwinglich gewesen war. |
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↑2 | “Der Betriebsführer und viele der leitenden Männer des Werkes sind in den selbstverantwortlichen Organen der Industrie des Reichsministers für Rüstung und Kriegsproduktion und in führenden Parteiämtern tätig. Damit ist die Gewähr gegeben, daß der Kontakt zwischen oberster Führung, Leitung des Betriebes und der Gefolgschaft in jeder Beziehung sichergestellt ist. Wie auf dem betrieblichen, verhält es sich auch auf dem politischen Gebiet. Missverständnisse und Unstimmigkeiten zwischen Betrieb und Partei werden dadurch, dass ein großer Teil Werksangehöriger als politische Leiter und Führer der Gliederungen der Partei aktiv tätig sind, von vornherein vermieden. Zum Beispiel ist der Betriebsobmann des Werkes zugleich Ortsgruppenleiter der Stadt Sindelfingen.“ |